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Opernführer

Internationale Siegfried Wagner Gesellschaft e.V., Bayreuth

 

Märchenhaft, düster, eindringlich

Siegfried Wagners erste Oper wurde seine bekannteste und prägte fortan das Bild vom Märchenkomponisten: Wenn auch seine übrigen Opern bisweilen sagen- und märchenhafte Züge enthalten, so schrieb Siegfried Wagner doch nur drei ausgesprochene Märchenopern.

Der Bärenhäuter (1898, nach Grimms Märchen »Des Teufels rußiger Bruder«, der »Spielmannssage vom Heiligen Petrus«, Quellen bei Tacitus, Grimmelshausen und in der Bayreuther Stadtchronik sowie eigenen Zutaten) ist die zur Zeit des 30jährigen Krieges in den Bayreuther Landen spielende Geschichte vom Soldaten Hans Kraft, der als Wächter der Höllenkessel alle Seelen verspielt und zur Strafe rußig und mit einem Bärenfell bekleidet umherirren muss, bis er durch die Treue eines Mädchens seine individuelle Gestalt zurückgewinnt.

Dieser heiteren, leichtverständlichen und eben darum populären Oper mit ihren eingängigen Melodien folgte 1900, von den Wagnerianern als »Meistersinger«-Parodie verpönt, Herzog Wildfang, in deren Verlauf ein junger, zügelloser Herzog auf ein Bürgermädchen schießt, ein Rat eine Schein-Revolution entfacht, um selbst regieren zu können, und ein Wettlauf der Freier Osterlinds die Entscheidung über deren Bräutigam herbeiführen soll. Bereits mit dieser Oper alterierte Siegfried Wagner seinen Stil von der volkstümlichen Märchenoper zur Betonung des Symbolischen und zur Darstellung psychologischer Situationen.

Der Kobold (1903) behandelt die Tragik der die Schuld ihrer Eltern büßenden Kinder und das Problem des Fetischismus.

Bruder Lustig (1904) hat nichts mit dem Grimm-Märchen gemein, doch auch der Titel Andreasnacht, unter dem Wolfgang Wagner diese Oper 1944 in Berlin inszenierte, wird dem Werk, das neben allgemein menschlichen Problemen die Folgen abergläubischer Wahnvorstellungen behandelt, nicht gerecht. »Bruder Lustig« ist lediglich der Beiname der Hauptfigur Heinrich von Kempten, der ihn zu recht trägt, da er sich in der größten Bedrängnis als geistvoller Spaßmacher erweist.

Das Sternengebot (1905), die gedeutete Aussage des Sternbildes, bewirkt die Aktionen der fünften Oper, deren Fazit lautet: Höher als aller Sterne Gebot waltet ein Zweites – des Herzens Gebot. Der in dieser Oper als Regisseur der Szene fungierende Kurzbold, eine Sigmund Freud'sche Gestalt, blieb dem zeitgenössischen Publikum unverständlich.

Die frei dramatisierte wendische Sage über Dietrich von Bern, den wilden Jäger, ist die dramatische Grundlage der 1909 vollendeten Oper Banadietrich.

Das Schwarzschwanenreich (1910) behandelt den Weg der durch schwarze Schwäne (teuflische Reiter) verführten Hulda von der Brandmarkung über den Hexenprozeß zur Verbrennung. Zu spät erkennt das Volk den Grund des Vergehens der Schuldig-Schuldlosen in den gesellschaftlichen Verhältnissen, dem Aberglauben des Zeitalters.

Sonnenflammen (1912) stehen als Symbol für Verblendung, für das Bild des Falters, der dem Lichte zustrebt, um darin umzukommen: Ein Kreuzritter aus Franken verliert am Hof von Byzanz, das auf dem Kulminationspunkt seiner prunkvollen Entwicklung angelangt ist, die Ehre und stirbt in den Flammen des untergehenden Kaiserreiches, während seine Geliebte gerettet wird.

Der Heidenkönig (1913) behandelt die gesellschaftliche Veränderung durch die Christianisierung während der polnischen Eroberung Preußens (16. Jahrhundert) und das Schicksal der Ehebrecherin Ellida, der Frau des von den Heiden zum König erwählten Preußenführers Radomar.

Die zehnte Oper Siegfried Wagners, Der Friedensengel, wurde 1914 vollendet. Sie ist eine ethische Friedensforderung, geboren aus dem Leid des ersten Weltkrieges: eine jeglicher Konvention enthobene, allgemeingültige Forderung nach persönlicher Entfaltung und Selbstverwirklichung in einer erhofften, utopischen Freiheit individueller Religion und Lebensweise. – Engel und das Graumännlein im zweiten Akt sind theatralisch-semiotische Vorgänge, Veranschaulichungen, die in die Gebiete der Tiefen- oder der Parapsychologie fallen und nichts mehr mit den Märchenzügen in früheren Opern Siegfried Wagners zu tun haben.

Dagegen ist das nächste Werk Siegfried Wagners, An Allem ist Hütchen Schuld ! (1915), wieder eine Märchenoper, die sogar über vierzig Märchen verarbeitet. In einer Prügelszene kommen sich dabei auch Jacob Grimm und Siegfried Wagner, der seine Opernadaption der Märchen verteidigt, in die Haare. Hütchen, ein kleiner Kobold, ist als theatralische Semiose der menschlichen Ratio zugleich Hauptfigur und dramatisches Hauptmotiv. An Allem ist Hütchen Schuld ! ist neben Sternengebot und Sonnenflammen die bedeutendste Oper Siegfried Wagners, da sie auch ohne Entschlüsselung der in diesem Werk dominierenden Sexualsymbolik zu verstehen ist, während sonst die märchenhaften Bilder in Siegfried Wagners Opern ohne Vorstudium des Textbuches vielfach unverständlich bleiben mussten, zumal auch die Inszenierungen nichts zur Verständlichkeit beitrugen.

In Der Schmied von Marienburg (1920) ist Siegfried Wagners dramatisches Prinzip der Duplizität voll ausgereift: Einzelhandlungen, die sich scheinbar mit anderen doppeln, führen in der Person des Schmiedes Muthart zusammen; rein menschliche Verhaltens(fehl)weisen werden mit ethischem (Fehl-)Verhalten in höheren Normen gleichgesetzt: eines erklärt das andere, um – verbunden durch die Hauptidee – Einzelhandlungen und Charaktere dramatisch zu konkretisieren.

Bei Rainulf und Adelasia (1922) handelt es sich nicht um ein Liebesdrama (Rainulf und Adelasia sind Gegenspieler), sondern um eine historische Tragödie zur Zeit Kaiser Heinrichs VI., die der Frage nach Glück und dem Sinn alles menschlichen Tuns nachgeht.

Die erst 2001 uraufgeführte Oper Die heilige Linde (1927) spricht im Titel ein Symbol der Handlung aus, das die Semiose des Problems der Erhaltung, Erneuerung oder Negierung einer überkommenen Tradition ist: König Arbogast läßt aufgrund römischen Einflusses die heilige Linde, den von den Germanen verehrten Baum, fällen; nach dem Tod des von Rom betrogenen Königs pflanzt seine Frau eine neue Linde.

Unvollendet blieben Das Liebesopfer bzw. Wernhart sowie Walamund (alle nur Dichtung), Wahnopfer (nur 1 ½ Akte in Partitur) und die dritte Märchenoper, Das Flüchlein, das Jeder mitbekam (Instrumentierung fehlt); die beiden letztgenannten konnten jedoch – zumindest teilweise – ergänzt und aufgeführt werden.

Siegfried Wagners Musik ist nachromantisch, hat aber einen unverkennbar eigenen, an seinen Großvater Liszt gleichermaßen wie an Rossini, Verdi und Weber anknüpfenden Stil, der von Richard Wagner nur die dramatischen Forderungen berücksichtigt. Impressionistische und expressionistische »Modernismen« finden lediglich als dramatische Mittel Verwendung. Die Opern sind durchkomponiert, wobei der Sprechgesang die in Richard Wagners »Parsifal« angezeigte Entwicklung weiterleitet. Den Personen sind Situationsmotive zugeordnet, die jedoch primär musikalische Bausteine sind und nicht mit Erinnerungs- oder Leitmotiven verwechselt werden dürfen.

Man kann Siegfried Wagner weder als modernen, noch als rückständigen Komponisten einordnen, wie auch der auf ihn geprägte Ausspruch »der letzte Melodiker« (Stassen) auch für andere Komponisten seiner Zeit, die dabei Epigonen waren, in Anspruch genommen werden kann. Siegfried Wagners Schaffensfeld ist kompositorisch sehr begrenzt nach allen Seiten und erklärt seine schwierige Eigenstellung im Musiktheater des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts.

Doch nicht nur Siegfried Wagner geistig verbundene Komponisten wie Saint-Saens und Humperdinck beurteilten seine Musik positiv, sondern auch Arnold Schönberg, der 1912 schrieb: »Der Sohn dieses Vaters, der übrigens als Künstler zweifellos das Opfer einer pedantischen Theorie ist, der nicht nach seinem Eigenwert geschätzt, sondern nach einem verrneintlichen Naturgesetz, demzufolge ein bedeutender Mann keinen bedeutenden Sohn haben darf, obwohl Johann Sebastian Bach zwei sehr bedeutende Söhne hatte und obwohl Siegfried Wagner ein tieferer und originellerer Künstler ist, als viele, die heute sehr berühmt sind« (Rheinische Musik- und Theaterzeitung).


Peter P. Pachl


Quelle: Programmheft Sternengebot, Wiesbaden 1977  (mit freundlicher Genehmigung des Autors; gekürzt bzw. ergänzt und redigiert) 
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