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Anmerkungen zur Uraufführung

Internationale Siegfried Wagner Gesellschaft e.V., Bayreuth

 

Deutsche Identitätssuche

Siegfried Wagner (1869 – 1930), der einzige Sohn Richard Wagners, hat mit seinen 15 vollendeten Opern seinen Vater in der Anzahl an Bühnenwerken überboten. Um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert war dessen erste Oper Der Bärenhäuter sogar der absolute Spitzenreiter im Spielplan deutschsprachiger Bühnen.

Im September 1922 vollendete Siegfried Wagner in Bayreuth das symphonische Vorspiel zu einer Oper, deren Dichtung erst zwei Jahre und deren Partitur sogar erst fünf Jahre später vollendet werden sollte, die in seinem Kopf jedoch, zum Teil bereits bis in Einzelheiten hinein, konzipiert war: Die heilige Linde. Dass ein Vorspiel fünf Jahre vor Fertigstellung der Opernpartitur vorliegt und als solches bereits drei Jahre vor Vollendung des gesamten Werkes in Konzerten besonders häufig zur Aufführung kommt, ist in der Musikgeschichte einzigartig. Der Siegfried-Wagner-Exeget Paul Pretzsch meinte bereits im Jahr 1929, dass es »nicht an gewichtigen Stimmen fehlt, die dieses Vorspiel für das schönste der Vorspiele Siegfried Wagners erklären« – und so ist es bis heute geblieben. Davon zeugen auch die vergleichsweise zahlreichen Interpretationen, die es davon auch auf Schallplatte und CD gibt. Infolge des frühen Todes des Komponisten und Leiters der Bayreuther Festspiele, unmittelbar nach seiner – von Arturo Toscanini musikalisch begleiteten – Inszenierung des »Tannhäuser« im August 1930, blieb die Oper Die heilige Linde bislang ungedruckt und unaufgeführt.

Die Handlung spielt im dritten Jahrhundert n.Chr. und erzählt von dem Barbarenkönig Arbogast, der trotz der Warnung des alten Ekhart den heiligen Baum seines Stammes, eine uralte Linde, fällen lässt. Dem Herrscher steht die Gestalt des jungen markomannischen Prinzen Fritigern gegenüber, der inkognito das Nerthusfest, das Fest der Göttin der Fruchtbarkeit, besucht und sich dabei in Hildegard, die Frau Arbogasts, verliebt. In Rom schließt Arbogast unterdessen einen Pakt und nimmt an ausgelassenen Festen und Circus-Spielen teil, bei welchen er Opfer einer Intrige Philos, einem Günstling des römischen Kaisers, wird. Im Isis-Tempel wird er mit der römischen Kurtisane Autonoë vermählt. Als er in die Heimat zurückkehrt, merkt er zu spät seine Verblendung und fällt im Kampf gegen das römische Heer. Seine Witwe Hildegard pflanzt als Zeichen der Treue zum althergebrachten Glauben, eine neue, junge Linde und bekennt sich ihrer Liebe zu Fritigern.

Die heilige Linde hat die deutsche Identitätssuche zum Thema und propagiert die Durchdringung kontroverser Religionen. Die Anregung, sich mit diesem Thema zu befassen, geht vermutlich auf die Beschäftigung des Komponisten mit der Geschichte der Ordensritter zurück, die ihren künstlerischen Niederschlag dann in den Opern Sonnenflammen und Der Schmied von Marienburg fand. Im Zusammenhang mit der Entfremdung des Ordens von Sion und der Tempelritter im Jahre 1188 wurde eine Ulme gefällt, die auf dem Feld neben der Burg von Jerusalem stand. Dieses Feld wurde bereits in vorchristlicher Zeit für heilig gehalten. Bei einem Treffen zwischen Heinrich II. von England und Philipp II. von Frankreich geriet die auf dem Schlachtfeld stehende 800 Jahre alte Ulme in den Mittelpunkt einer blutigen Auseinandersetzung. Schließlich fällten die Franzosen den Baum, dessen Stamm so dick war, dass ihn neun Männer kaum umfassen konnten. Als Vorwand diente ihnen die Tatsache, dass der Baum den Engländern Schatten spendete, während sie selbst in der prallen Sonne stehen mussten. Arbogast lässt die Linde mit der Begründung fällen, sie versperre ihm die Aussicht.

Offenbar stützt sich Siegfried Wagner des Weiteren auf eine andere Quelle, die zur Entstehungszeit des opus 15 noch nicht veröffentlicht, aber schon weitgehend bekannt war. Es ist »Der alten Linde Sang von der kommenden Zeit«, eine Prophezeiung, die im hohlen Stamm einer uralten Linde gefunden wurde, die an einem Hohlweg zum Friedhof der fränkischen Stadt Staffelstein steht. Eine Abschrift dieser Prophezeiung aus dem 19. Jahrhundert wurde in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts wieder entdeckt. Eine Anzahl der in dem Lied von der alten Linde prophezeiten Entwicklungen scheint sich in der Historie bereits erfüllt zu haben, ein großer Teil zielt aber auf eine uns unbekannte Zukunft hin. In diesem Sinne mag auch Siegfried Wagners Oper Die heilige Linde als ein »Kunstwerk der Zukunft« zu verstehen sein, das zwar allem Anschein nach im dritten Jahrhundert n.Chr. spielt, aber in seiner Entwicklung nicht nur in die Zeit seiner Entstehung, sondern darüber hinaus reicht.


Peter P. Pachl


Quelle: Programmheft
Die heilige Linde, Philharmonie Köln 2001 (mit freundlicher Genehmigung des Autors)
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