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» ... Zum Trost meiner kranken, wunden Brust ! ... «

Internationale Siegfried Wagner Gesellschaft e.V., Bayreuth

 

Gedanken zum 80. Todesjahr Siegfried Wagners

Zwanzig Jahre bevor Siegfried Wagner in Folge eines Herzinfarkts stirbt, legt er die Worte »Zum Trost meiner kranken, wunden Brust« seiner autobiographischen Figur Hulda in den Mund (Schwarzschwanenreich I, 6) (1). Im Gegensatz zu der vorherigen Textbuchfassung fügt er das Attribut wund hinzu – als einen Hinweis darauf, dass die Brust der Handlungsträgerin verletzt ist. Trost bieten ihr ein Traumbild und milde Laute von eines Jünglings reiner Minne!. (2) Nur Liebe und Verständnis eines Menschen, der um das Geheimnis, ihre Schuld weiß, können sie heilen. Im ersten Entwurf der Dichtung Schwarzschwanenreich beschreibt Siegfried Wagner das psychische Grundproblem der Protagonistin: »[...] Soll sie sich ihm vertrauen. Soll sie ihm alles sagen? Wie? Kann sie das Unmögliche verlangen? Dass er, ihre Schuld wissend, sie für schuldlos halten soll! – An diesem Conflicte geht sie zu Grunde [...].« (3) Mit der Figur der Hulda gelingt es Siegfried Wagner, sich in die Ausnahmesituation einer Frau einzufühlen, die aus Angst ihr neugeborenes Kind getötet hat. Hohe Sensibilität beweist er auch schon mit seinem Opus 3, Der Kobold, in dem er sich als junger Mann mit dem Tabuthema der Abtreibung sowie den psychischen Folgen für alle Beteiligten befasst. Im gesamten musikdramatischen Schaffen Siegfried Wagners fallen immer wieder Stellen auf, an denen autobiographisch gefärbte Figuren ihr zerrissenes Herz beklagen, verbunden mit Hoffnung auf Heilung und Trost.

Hulda in Schwarzschwanenreich scheint aber auch ein Abbild der eigenen psychischen Verfassung des Autors zu sein: die Einsamkeit eines Menschen, der an einem Schuldkomplex leidet, über den er mit keinem Menschen sprechen kann. Der Trost als der ersehnte Archetypus bleibt dabei in seinen Opern, wie auch im realen Leben der schöne Jüngling.


 

» … Zwei Willen birgt kein Körper … «

»Zwei Willen birgt kein Körper« (4), dies erkennt Siegfried Wagner schon in seinem Opus 2, Herzog Wildfang, in dem der junge Prinz, auf dem alle Erwartungen ruhen, »[...] auf eine Kron´« verzichtet, »die freudlos längst das Haupt« ihm drückt. (I, 7) (5) Dies formuliert der Dichterkomponist acht Jahre vor seiner allein verantwortlichen Übernahme der Bayreuther Festspiele. Einerseits liebt er das Werk seines Vaters und arbeitet bei den Festspielproben bis zur Erschöpfung; andererseits leidet er unter dem Druck seiner Familie, die ihr Ansehen und die Außenwirkung über das Glück der Familienmitglieder stellt. Seine Sehnsüchte stehen wie die der Titelfigur in Herzog Wildfang im Widerspruch zu den familiären Pflichten: »[...] Wohin mich´s treibt, da flieg´ ich lustig hin! An meerumrauschte prangende Ufer, wo heiter die Menschen, wo funkelnd der Wein! [...]« (II, 1) (6)


 

Trauer um die Liebe seines Lebens

Zwanzigjährig findet Siegfried Wagner im fast gleichaltrigen Clement Harris einen Geistesgefährten und die große Liebe seines Lebens. Durch Harris gelangt Wagner in kosmopolitische Kreise und macht die Bekanntschaft mit Oscar Wilde: »Intensiveren Kontakt mit der Gedankenwelt Oscar Wildes erlebt Siegfried Wagner durch seine Freundschaft mit Clement Harris, vor allem im täglichen Beisammensein auf der nun folgenden mehrmonatigen Schiffsreise«, schreibt Dorothea Renckhoff ausführlich in ihrem sehr aufschlussreichen Beitrag mit dem Titel »Und die Seele ging weinend über die Sümpfe davon.« (7)
 
Harris ist ein vielversprechender englischer Pianist und Komponist. 1897 reist er allein nach Griechenland und schließt sich bald als Freiwilliger griechischen Freiheitskämpfern gegen die Türken an, um nach dem Vorbild Lord Byrons für seinen Philhellenismus zu kämpfen. Nach wenigen Tagen wird er mit nur 25 Jahren tödlich verwundet. Es dauert Wochen mit widersprüchlichen Nachrichten, bis bekannt wird, dass Clement Harris gestorben ist. Die Ungewissheit ist mit Sicherheit eine enorme Belastung für Siegfried Wagner. Als es ihm bekannt wird, dass er seinen Freund verloren hat, fehlt dem 27-jährigen Siegfried die Möglichkeit der Trauerarbeit. Ein Abschied, wenigstens von dem Toten, ist unmöglich; Clements Leichnam wird laut der Biographie von Claus Victor Bock nicht gefunden.(8) Siegfried spricht oder schreibt selten direkt über persönliche Empfindungen, er schweigt lieber. Das Schweigen rührt wahrscheinlich auch von der Angst her, dass das intime Verhältnis bekannt werden könnte und somit die eigene Person, aber auch postum das Ansehen des Freundes gefährdet sei. Es gibt keinen Ort des Trauerns, vor allem kein Grab, das für Menschen nach einem Verlust sehr wichtig ist. Es bleibt nur die Möglichkeit künstlerischer Verarbeitung. Findet sich darin auch eine Phase der Wut, des Gefühls, verlassen worden zu sein? Im Herzog Wildfang will Osterlind von ihrem in einen Krieg – im Süden! – verschwundenen Geliebten Reinhart zunächst »nichts mehr wissen«(I, 3) (9), aber nach der Erkenntnis der Fortdauer ihrer geistigen Verbundenheit mit ihm redet sie ihn »im Geiste« an:
 

    Und bliebst du auch mir fern
    und wärst du mir verloren,
    und würde Alles zu Spott,
    und zermalmten mich Schicksalsschläge,
    du bliebst doch der Stern,
    zu dem ich ward geboren!
    (II, 8) (10)
     

Der Leitstern taucht dann in der Handlung zwar als Person wieder auf und Osterlind bekennt sich öffentlich zu ihm, er aber antwortet ihr nicht.
 
Möglicherweise hofft Siegfried noch eine Zeit lang, dass Clement doch überlebt hat und irgendwann zurückkehrt. Als Leitbild taucht er immer wieder in Siegfrieds Werk auf. Die große emotionale und geistige Bedeutung Clements für Siegfried ist auch daran ersichtlich, dass auf seinem Schreibtisch bis zum eigenen Tod eine Fotografie von Clement Harris steht.(11) Nach dem Verlust des jung gestorbenen Freundes sucht Siegfried Wagner zeitlebens geistige, emotionale und körperliche Nähe, insbesondere bei jungen Männern – während er selbst altert.

In der Schlussszene von Sternengebot, op. 5, baut die Sonne der »Liebe den Regenbogen«. Auf der Himmelsbrücke und dem Liebesband kann dem verschwundenen Geliebten das Herz folgen. – Ein wunderbares Symbol für die einzige Verbindung von zwei getrennten Menschen. (III, 5) (12) Projiziert Siegfried in der Figur des Helferich (Siegfrieds zweiter Vorname) die Vorbildfunktion Clements auf sich selbst? Helferich zieht, wie Clement, als idealistischer Kämpfer in den Osten. In der weiblichen Hauptfigur Agnes, die Helferich liebt,  kommt, wie bei Osterlind in Herzog Wildfang, die Sehnsucht des zurückgebliebenen Menschen zum Ausdruck. »Getrennt dem Auge, vereint im Schmerz«, bleibt nur noch die Hoffnung auf eine geistige Verbindung. (III, 5) (13)

Siegfried Wagner ist, wie Clement Harris, ein begeisterter Philhellene, verlagert seine Ideale aber in eine geistige Welt. Im Gegensatz zu seinem Freund kommt Siegfried, der regelmäßig nach Italien reist und sich dort an Wärme, Licht und der Ästhetik der Kultur erfreut, nie nach Griechenland. Als er dies endlich doch plant, stirbt seine Mutter und bald darauf er selbst. Er weiß, dass er von dem realen Land wahrscheinlich enttäuscht wäre und muss sich sein ideales Bild erhalten, auch um dem Tod des Freundes wenigstens einen Sinn geben und bewahren zu können. Das einzige geistige Refugium gleichgeschlechtlicher Liebe ist zu Siegfrieds Lebzeiten das antike Griechenland mit seiner vergleichsweise liberalen Haltung.  Im realen Leben droht nicht nur die Kriminalisierung infolge staatlicher Gesetze, sondern auch die Psychiatrisierung durch Ärzte und die gesellschaftliche Meinung, sowie die Verteufelung durch alle kirchlichen Institutionen.

Gut 30 Jahre nach Clements Tod wird Siegfried aufgrund von Erpressungsversuchen noch immer gezwungen, seine enge Beziehung zu dem Freund zu verleugnen – eine zusätzliche psychische Belastung. Womöglich entwickelt Siegfried durch derartige Vorfälle Schuldgefühle seinem Freund gegenüber.(14)


 

» … Verhexter! Hat dich Scham und Ehr` verlassen? … «

Mit der Frage »Verhexter, hat dich Scham und Ehr verlassen?«, traktiert Ursula ihren Bruder Liebhold, da dieser sie anfleht, seine Frau Hulda, in den Augen der Mitmenschen eine »sünd´ge Liebe«, vor der Hinrichtung zu retten. (Schwarzschwanenreich III, 3) (15)
 
Die autobiographischen Parallelen von Ursula zu Siegfrieds Schwester Eva und Liebhold zu Siegfried selbst sind überdeutlich. Psychische Verletzungen durch Demütigungen und hoher Druck infolge von Angst vor Enthüllung mit weitreichenden Konsequenzen gibt es offensichtlich immer wieder in Siegfrieds Leben. Von seiner Umgebung und der Gesellschaft wird ihm ständig suggeriert aufgrund seiner Lebensweise schlecht und abnorm zu sein. Als Entarteten (16) bezeichnet Ursula ihren Bruder. Mit diesem Wort, das schon vor dem Gebrauch im Nationalsozialismus eine schreckliche Bedeutung hat, verstößt sie ihn verbal aus der Familie und aus der Gesellschaft. Ihr scheint es sogar besser, wenn ihr Bruder den Tod findet, als wenn er seine Außenseiterliebe realisieren könnte.
 
Für die unausgefüllte Lebenssituationen seiner Schwestern, denen, insbesondere im Falle Evas, als Aufgabe nur die Fürsorge für Mutter und Bruder, sowie später für ihren Ehemann blieb, zeigt Siegfried Verständnis: Die verbitterte Ursula »stürzt weinend« nach einem Hassausbruch gegen Hulda  »zusammen«, weil sie glaubt, Hulda hätte ihr den Bruder und den Freund entfremdet. Hulda fragt Ursula: »Bin ich an Deinem Kerker schuld?« (Schwarzschwanenreich II, 3) (17) Ist hiermit nur die zuvor erfolgte Gefängnisstrafe für Ursula oder auch ihr Gefangensein in Dogmen gemeint?
 
Zu diesen erschreckenden Einblicken kommen entwürdigende Situationen, z. B. dass Siegfried seine Leidenschaft für Männer nur heimlich in Verstecken und Zisternen ausleben kann.(18)
 
Angeblich musste Adolf von Groß, Siegfrieds Vormund und Finanzverwalter der Familie, Siegfried Wagner »von Erpressern (Italienern!) loskaufen und während vollen vier Jahren habe er mit ihm gar keinen Verkehr mehr gehabt«.(19) Dass Siegfried enge Kontakte mit ausländischen Freunden eingeht, empfindet sein Umfeld als besonders verwerflich. Statt ihn zu unterstützen, bricht von Groß sogar den Kontakt mit ihm ab. Für Siegfried bedeutet solches Verhalten eine zusätzliche Enttäuschung, nachdem er wiederholt von falschen Freunden ausgenutzt wurde. Dies erhöht den psychischen Druck und treibt ihn weiter in die Isolation. Im gleichen Brief schreibt der Schweizer Wagnerianer Adolf Zinsstag einem Freund von der »fürchterlichen Bestätigung, dass die Munkeleien und Raunereien über das abnormale Triebleben S.W.s. ihre Gründe haben …« (20)

Diese unmenschliche Einstellung und Ausdrucksweise stellt gleichgeschlechtliche Liebe gleich mit Krankheit sowie Unzurechnungsfähigkeit und steigert sich in dem Satz, dass »Siegfried Wagner das Unglück von Bayreuth ist«.(21) Warum kommt keiner auf die Idee, dass die soziale Ächtung und damit die Erpressungen das einzige Unglück sind?


 

Gesellschaftliche Umbrüche

Der Beginn des 20. Jahrhunderts ist geprägt von gesellschaftlichen und politischen Umbrüchen, was nicht nur zu liberaleren Entwicklungen, sondern auch zu Unsicherheiten und Ängsten führt. Außenseiter stoßen auf Misstrauen bei Menschen, die nach moralischen und nationalen Sicherheiten suchen. Die Gefahr für Familie und ihr Ansehen scheint groß, wenn ein Familienmitglied, gar das männliche Oberhaupt, aus den Richtlinien ausschert. Aus der Psychologie ist bekannt, dass Menschen, die Andersartiges als fremd und negativ ablehnen, sich ihrer eigenen Identität vergewissern müssen. In der damaligen Zeit ist zudem die Überzeugung verbreitet, gesellschaftliche Außenseiter wären dann glücklich, wenn sie sich der Norm anpassen, statt nach ihrer Natur leben zu können.
 
Zwar lebt Siegfried Wagner mutig und selbstbewusst sein Privatleben aus. Er streitet in seinem gesamten Werk für die individuelle Außenseiterliebe und tiefes Mitgefühl, aber andererseits leidet er lebenslang unter Zweifeln und Schuldgefühlen. Das Hin- und Hergerissensein kommt in Dichtung und Musik immer wieder eindringlich zum Ausdruck.


 

Eigenes Profil

Zu Siegfrieds Lebzeiten herrscht ein Männlichkeitsideal, das seinem sanften Wesen widerspricht. Vor allem seine zurückhaltende Eigenart gibt ihm sein unverwechselbares positives Profil. So weiß sein Bühnenbildner Kurt Söhnlein zu berichten: »Dabei war das Gewinnendste an ihm sein schlichtes, reines Menschentum. Ein durch nichts beirrbares Sich-selber-treubleiben in allen Anfeindungen, ein Ausstrahlen von Güte – trotz allem Behelligtwerden durch Bosheit.«(22) Siegfried Wagner bezeichnet sich selbst in einem Brief an seinen Konzertagenten Louis Michel selbstironisch als »armes Luder« (23) oder gegenüber dem Freund Otto Daube als »Veilchen im Verborgenen«. (24)
 
Mit Sicherheit kompensiert Siegfried viele Belastungen durch seinen nie versiegenden Humor und Optimismus, der auch in verzweifelten Lagen durchscheint. Nur durch Selbstironie kann er wahrscheinlich gerade in solchen Situationen Abstand gewinnen.


 

Freitodphantasien

Ab Opus 7, Schwarzschwanenreich, häufen sich bei den Protagonisten in Siegfrieds Werk Fluchtphantasien und Suizide bzw. Suizidversuche, aufgrund von Lieblosigkeit und dem Unverständnis ihrer jeweiligen Mitmenschen.
 
In Sternengebot, op. 5, bleibt am Schluss noch die Hoffnung, dass der geliebte Mensch zwar »getrennt dem Auge« sei, aber dass  »vereint im Schmerz« ihm das »Herz« folgen könne. (Sternengebot, III, 5) (25) Dagegen herrscht Resignation in Sonnenflammen, op. 8. Der Kaiserin kommt der Gedanke an einen »Trost« durch Freitod, während der Winzer seiner Liebe, »fern dem Herzen! Nur in Schmerzen!«, gedenkt. Beide, Kaiserin und Winzer, leiden an Entwurzelung und an dem Fehlen bzw. am Verlust eines emotional nahestehenden Menschen. (Sonnenflammen, II, 1) (26)
 
Besonders in Der Friedensengel, op. 10 beschäftigt sich Siegfried Wagner gedanklich mit Ursachen, Methode, Vorbereitung des Suizids, den psychischen Veränderungen eines Suizidalen und den Reaktionen der Mitmenschen. Womöglich nimmt er durch künstlerische Aufarbeitung Abstand von eigenen Freitodgedanken. Er ist besonders während der Entstehungszeit dieser Oper psychisch sehr belastet und befindet sich in einer Krise.
 
Kam ihm auf der verzweifelten Suche nach einer endgültigen Antwort in Bezug auf seine liberale, geistige Haltung und Lebensweise womöglich der schreckliche Gedanke: »Nicht nur die Welt, sondern auch Gott, die letzte Instanz hinter aller Welt, verurteilt mich? Unter solchen Voraussetzungen bliebe nicht einmal der unfreiwillige Selbstmord als wirklicher Ausweg.« (27)
 
In der Schlussszene Der Friedensengel kommt der Dichterkomponist zu der Gewissheit, dass die Seele des durch Suizid aus dem Leben Geschiedenen, welche  »des Wahnes Schein betrog, längst befreit von menschlichem Fehl, hin zu seligen Höhen flog!« (28)
 
Außer seiner Lebenslust sieht Siegfried Wagner Sinn in seiner Arbeit und in der Aufgabe, die Festspiele weiterzuentwickeln. 


 

Hin- und Hergerissensein

Nur ein Jahr nach Der Friedensengel löst er in An Allem ist Hütchen Schuld!, op. 11, das Suizidproblem humoristisch und lässt den unterbewussten Lebenswillen siegen. Während dieser Zeit, 1915, lernt er Winifred Williams kennen und heiratet sie im September desselben Jahres. Er hofft auf Heilung und innere Heimat durch Familienglück. Mit Sicherheit liebt er seine Frau und seine Kinder, stellt aber offensichtlich bald fest, dass sich die geistige Haltung Winifreds in eine ihm entgegen gesetzte Richtung entwickelt. Gut ein Jahr nach seiner Heirat verarbeitet er in Das Liebesopfer, op. 12a, wieder ausführlich seine Sehnsucht nach dem Süden und dem Meer. In Briefen an Freunde erwähnt Siegfried Wagner immer wieder Überlegungen, auszuwandern. Der Wunsch, in der Ferne nochmals ein neues Leben zu beginnen, steht im Widerspruch zu den Plänen der Frau des Protagonisten in seinem neuen Opus, Wernhart. Ähnlich verhält sich die Ehefrau des Autors, die den Sohn Richard Wagners mit seinem Festspielunternehmen geheiratet hat, aber mit seinen kosmopolitischen Sehnsüchten wenig anfangen kann. Wernhart entwurzelt sich selbst und ist auch im Land der Sehnsucht einsam. Als er seine Ausweglosigkeit, auch aus dem Schuldkomplex gegenüber seiner Familie, erkennt, ist er »gelähmt«, also handlungsunfähig, und stirbt kurz darauf. Im realen Leben verbleibt Siegfried – auch aus Verantwortungsbewusstsein – vor Ort und seiner Lebensaufgabe treu.
 
Wernharts Gefallen an der weltoffenen, eleganten Pariser Dame, die einen großen Gegensatz zu seiner Frau darstellt, erinnert an Siegfrieds frühere französische Freundin, die Mezzosopranistin Marguerite Zinah de Nuovina (1866 – ?), mit der ab 1910 kein Kontakt mehr dokumentiert ist.
 
Anfang 1917 – Siegfried ist gut ein Jahr verheiratet und das erste eheliche Kind ist gerade auf der Welt – fügt er in der Reinschrift seiner Operndichtung Das Liebesopfer einen 4. Akt an, in dessen Verlauf er fast ausschließlich von der Sehnsucht nach der großen Liebe und dem Verzicht auf  sie schreibt.
 
Die lebenslangen zwiespältigen Situationen, die sich in den Zwanzigerjahren durch die Fixierung seiner Frau auf nationalistische Ideen zum einen und seine eigene kosmopolitische  Entwicklung zum anderen zuspitzen, zehren zusätzlich an Siegfrieds Kräften. Einerseits hängt er der untergegangenen Welt mit der Monarchie vor dem ersten Weltkrieg an, andererseits ist ihm gerade diese militaristische, moralischen Traditionen verhaftete Gesellschaft fremd. Vom politischen Chaos der Zwanzigerjahre befremdet und durch die finanziellen Notlagen infolge der Inflation verunsichert, entwickelt er durchaus patriotisches Empfinden. Wie  viele seiner intellektuellen Zeitgenossen, bleibt er aber offen für die liberalen Entwicklungen dieser Zeit; er fährt regelmäßig nach Berlin und genießt dort das vielfältige Kulturleben.
 
Hin- und hergerissen zwischen der Liebe zu seiner enttäuschten Frau und der Zuneigung zu Freunden, bei denen er vermutlich das sucht, was er bei Winifred vermisst, muss diese Situation für beide Ehepartner sehr belastend sein. Siegfried entwickelt wahrscheinlich bald Schuldgefühle seiner jungen Frau gegenüber. In Das Liebesopfer entfernt sich Wernharts Frau Hedwig traurig von ihrem Mann, der aus seiner Ehe und Heimat geflüchtet ist. Laut der Regieangabe wagt er es nicht, »ihr nachzuschauen; es kämpft in ihm, am liebsten möchte er vor ihr niederknien und sie um Verzeihung bitten.« (III, 9) (29) Siegfried ist nun auch für seine Frau erpressbar, z. B. wenn er ihr untersagen will, NSDAP-Versammlungen zu besuchen.
 
Außer den Schuldgefühlen in Bezug auf seine Beziehungen zu Männern ist bei ihm offenbar ständig das Empfinden vorhanden, uferlos zu sein. Die Protagonisten in Siegfrieds Werk sind auffallend oft hin- und hergerissen zwischen mehreren Liebschaften; zwischen einer gesellschaftlich akzeptierten Liebe und geheimen Leidenschaften. Bisexuelle bzw. bi-emotionale Menschen werden heute noch – auch von vielen Homosexuellen – als unorientiert und bindungsunfähig wahrgenommen. Dabei wurde die Fähigkeit, sich in Menschen beiderlei Geschlechts zu verlieben, schon von Siegmund Freud als das Ursprüngliche in jedem Menschen angesehen.(30) Bi-Emotionalität könnte eine Brücke sein zwischen scheinbar sauber getrennten Hetero- und Homosexuellen.
 
Wahrscheinlich sind die Situationen in Siegfried Wagners Leben zu unglücklich, um eine dauerhaft erfüllte Partnerschaft entstehen zu lassen. Die Beziehung zu einem Mann ist zu seinen Lebzeiten kaum möglich. Schon gelegentliche Treffen stellen eine Gefahr – erst recht für einen prominenten Menschen – dar. Er kann nicht, wie damals in Homosexuellenkreisen üblich, anonym auftreten. Seine erste Beziehung zu einer Frau ist nicht legalisierbar, da es sich um eine verheiratete Frau handelt. Die Bindung zu Madame de Nuovina löst sich aus unklaren Gründen. In seiner Ehe erweisen sich die Gegensätze als zu groß. Parallelen zu Siegfrieds Ehesituation tauchen in Die heilige Linde, op. 15, auf, wenn dort Hildegard mit ihrem Mann Arbogast nach Rom ausschließlich aus dem Grunde mitreist, um »Unheil zu verhüten«, also zu verhindern, dass er sich mit zweifelhaften Freunden einlässt und in Schwierigkeiten manövriert. Arbogast aber ist nur in Rom glücklich und fürchtet gleichzeitig um die Liebe seiner Frau:
 

    Ja! Hier bin ich froh! Atme frei!
    Geist und Auge getaucht in Licht!
    Könnt ich wohl Höhres erstreben,
    als mit Rom im Bund zu leben?
    Hilde! Was ist nur mit Dir?
    Bist gar nicht mehr so lieb zu mir.
    Was ein Kuss ist, hast Du`s ganz vergessen?
      (II, 5) (31)
     

Siegfried Wagner kann auf große Erfolge zurückblicken, und seine Qualität als Komponist wird u. a. von Arnold Schönberg bereits im Jahre 1912 erkannt. Nicht nur von der Presse, sondern ausgerechnet von Musikern kommen aber auch verletzende Äußerungen, auf die Siegfried zu Recht empört reagiert. So z. B. als bei einer Probe zu Schwarzschwanenreich im 3. Akt zwei Musiker »eine schnoddrige Bemerkung« über den anklingenden Bach-Choral in der traurigen Kerker-Szene von sich geben. (32)
 
Über persönliches Glück und Erfolg reflektiert Siegfried u. a. in Rainulf und Adelasia, op.14. Der Smaragd, den Rainulf stahl und der »Angst und Unheil« von ihm halten soll, steht thematisch in Verbindung zu Verenas Talisman in Der Kobold. Smaragd gilt in der Naturheilkunde als bewährtes Heilmittel bei Herzerkrankungen und als motivierende Kraft für Liebe, Glück, Lebensfreude. Zugeordnet wird der Edelstein dem Monat Juni – Siegfrieds Geburtsmonat. In der Person des Rainulf reflektiert Siegfried womöglich eigene Bestrebungen, seine erfolgreiche Position als Festspielleiter zu sichern. Deutlich ausgeprägte autobiographische Seiten zeigt aber Rainulfs Gegenspielerin Adelasia, welche, »zerrissen meiner Ehre Gewand […] auf dornig düstrem Pfad« einsam ihren eigenen Weg geht. Wenn Siegfried der Adelasia die Worte in den Mund legt, »Ich fühl´ zu diesem Amt die Kraft! Hier schlägt ein trotzig kühnes Herz!«, so meint er damit womöglich auch sein schwieriges Amt, die Festspiele von politischen Einflüssen freizuhalten? (Rainulf und Adelasia I, 10) (33)
 
Was empfindet Siegfried Wagner wohl, wenn er – im damals recht kleinen Bayreuth – auf seinen unehelichen Sohn trifft, von dem keiner etwas wissen soll?! Eine schwierige Situation, auch für den Sohn, der als junger Erwachsener unter Siegfrieds Leitung bei den Festspielen mitwirkt. Womöglich wird Siegfried durch sein erstes Kind zu der sehr einfühlsamen Szene zwischen Friedelind und dem Einsiedler in Der Schmied von Marienburg, op. 13, inspiriert. Aus der Sicht des Kindes reflektiert Siegfried hier die Sehnsucht nach dem leiblichen Vater und die Frage ob er sein Kind verleugnen würde. Offenbar ahnt die junge Frau, dass sie ihren Vater vor sich hat; weiß sie doch, dass dieser ein Einsiedler ist. Sie liegt ihm »schmeichelnd zu Füßen« und fleht ihn an um eine direkte Antwort, wie wohl der Vater in einer solchen Situation reagieren würde:
 

    … und fasste mit der Hand die seine,
    wie jetzt ich dich fasse,
    und sie schmiegte den Kopf an seine Brust,
    wie ich jetzt mich schmiege!
    Und sie blickte auf in sein Auge,
    wie ich in das Auge jetzt Dir schau!
    (II, 1) (34)
     

Der Einsiedler lässt es geschehen, antwortet aber nicht – auch da die Beiden ausgerechnet in diesem Moment gestört werden. – Ein dramaturgisch geschickter Verlauf, weil der Einsiedler (und der Autor) es offenbar nicht fertig bringt, seinem Kind die Wahrheit zu sagen. Siegfried verkehrt mit seinem geheimen Sohn nur sehr distanziert.(35)

In Siegfrieds letztem Opus aus dem Jahre 1929, Das Flüchlein, das Jeder mitbekam, op. 18, sucht der Königssohn Wehrhold als einfacher Soldat »eine liebe holde Braut« (I, 1) (36) Nur eine beachtet ihn, weil er »ein ehrlich lieb Gesicht« hat. (I, 5) (37) Siegfried hat noch immer die unerfüllte große Sehnsucht in sich, nicht als der Sohn, sondern als eigene Person wegen seiner menschlichen Qualitäten geliebt zu werden.


 

Arbeitswut und Zusammenbrüche

Als junger Mann leidet Siegfried offenbar immer wieder an psychosomatischen Beschwerden. In Briefen klagt er über Hautausschläge; später zunehmend über starke Kopfschmerzen, bedingt wohl durch den ungeheuren psychischen Druck. Ende 1914 erleidet  er, nachdem er mehrere Konzerte dirigiert hatte, mit 45 Jahren einen Zusammenbruch durch psychische Überlastung – nicht zum ersten Mal.(38)
 
In den späten Zwanzigerjahren altert er auffallend schnell und sieht verbraucht aus, wie auf den erhaltenen Fotografien zu sehen ist. Zwar genießt er immer wieder Reisen ins geliebte Italien, unternimmt aber auch dort Konzertreisen als Dirigent. Auch durch zunehmende wirtschaftliche Sorgen getrieben, bewältigt der 60-jährige noch ein enormes Arbeitspensum. Vor Beginn der Festspielproben 1930 leitet er große Konzerte und an der Mailänder Scala inszeniert und dirigiert er den gesamten Ring des Nibelungen. In seinem Tagebuch betont er, wie wichtig ihm diese Arbeit ist. Anzeichen für seine angegriffene Gesundheit  – er erwähnt in seinem Reisetagebuch Infekte und Mattigkeit – kuriert er kaum aus oder übergeht sie. Geradezu Raubbau an seiner Gesundheit betreibt er durch sein Arbeitspensum, den damit verbundenen Schlafmangel sowie seinen Zigarettenkonsum. Dies sind aber auch die wenigen autonomen Handlungen, die ihm in seiner Lebensweise noch bleiben. Seine Umgebung lobt seinen Arbeitseifer. Hans Richter betont schon 1908: »Keiner von uns hat so gearbeitet wie er.« (39) Antrieb zu seinem Schaffensdrang ist mit Sicherheit auch sein nicht ausgelebtes bzw. unterdrücktes Leben. Was ihn bis zuletzt zu Höchstleistungen für die Festspiele antreibt, ist die Liebe zum väterlichen Werk, aber offenbar auch das unterschwellige Gefühl, vermeintliche Makel kompensieren zu müssen. Nicht zuletzt eifert er dem Vorbild von Clement Harris nach, indem er sich für seine gewählte Aufgabe aufopfert.
 
Siegfried leidet schon Monate vor seiner akuten Erkrankung an Angina pectoris-Anfällen und zunehmender Luftnot.  Laut Arztanamnese »überfiel ihn ein allererster Anfall von seelischem und körperlichem Kollaps bei der Nachricht von dem plötzlichen unerwarteten Tode seiner Mutter«.(40) Dies war 3½  Monate vor seinem Herzinfarkt. Die Koronarsklerose und die vom Arzt diagnostizierte »starke Erweiterung des Herzens nach links und rechts«(41) sind eine allmählich fortschreitende Erkrankung, unter der Siegfried schon länger gelitten haben muss und die für sein Alter massiv und früh fortgeschritten ist. Eine wichtige Ursache ist der psychosoziale Stress, der in seinem Leben fast ständig gegenwärtig ist. Symbolisch gesehen erstarrt alles im Brustkorb, weil ein wichtiger Teil des Gefühlslebens nicht gelebt werden darf. Die Luft wird durch Bedrängungen immer knapper; die Schlinge zieht sich zu …

 
Am Tag des Herzinfarktes ist Siegfried bei den Festspielproben tätig, obwohl er morgens unter starken Herzschmerzen leidet und der Arzt des Festspielhauses ihm abrät. Durch den völligen Zusammenbruch, der durch den »ganz schweren, sehr bedrohlichen Herzkollaps« (42) eintritt, wird er völlig aus seiner Arbeit und seinem Leben herausgerissen. Er befindet sich nicht nur in einer existenziellen Ausnahmesituation, sondern ist aufgrund seiner schlechten körperlichen Verfassung übergangslos in völliger Abhängigkeit; sein Leben auf körperliche Grundfunktionen reduziert.
 
Wie aus dem Arztbericht von Dr. Koerber hervorgeht, sind alle Symptome der Rechts- und Linksherzinsuffizienz ausgebildet. Zu der Stauungslunge entwickelt sich eine Lungenentzündung. Die erwähnte auffallend große Schwäche und Apathie bzw. eine »stets vorhandene Teilnahmslosigkeit gegenüber Vorgängen der Umgebung« (43) liegt vor allem in der starken Erschöpfung und in der akuten Erkrankung begründet. Hinzu kommt aber, dass Siegfried während der gesamten Erkrankung, also fast drei Wochen lang, nie allein ist; betont wird im Arztbericht, dass vom Pflegepersonal »während der ganzen Krankheit Siegfried Wagners stets, Tag wie Nacht, jemand am Krankenbett anwesend war«.(44) Die ständige Hilfe bei alltäglichen Verrichtungen, wie Körperpflege, und Überwachung ist im Fall des Ausmaßes seiner Erkrankung einerseits notwendig. Gleichzeitig aber ist Siegfried nicht nur seines Lebensinhalts und seiner Autonomie beraubt, sondern hat nicht einmal mehr seine Intimsphäre. Was mag in ihm, der sonst seine Erlebnisse und Eindrücke musikdramatisch verarbeiten konnte, vorgehen, während er aufgrund seines schlechten Zustands zur Untätigkeit gezwungen ist? Bis etwa 12 Stunden vor seinem Tod ist er immerhin bei vollem Bewusstsein. Die Apathie ist auch ein innerer Rückzug. Nur in wenigen Stunden seines Krankenhausaufenthalts erkundigt er sich nach dem Stand der Festspiele. Wenn ihm Berichte und Genesungswünsche von Winifred oder vom Arzt überbracht werden, »hatte man zwar stets den Eindruck, dass er sich darüber freue, wie er es auch selbst manchmal äußerte; doch hielt diese Freude stets nur ganz kurze Zeit an, rasch fiel er wieder in den Zustand der Teilnahmslosigkeit.« (45)
 
Bis zum 9. Krankheitstag stabilisiert sich Siegfrieds Zustand; laut Bericht ist auch subjektiv sein Befinden besser. Besorgniserregend ist aber »immer noch die große allgemeine Apathie und Schwäche«. Am folgenden Tag leidet er aber wieder unter verstärkt bedrohlicher Schwäche; zudem breitet sich die Lungenentzündung weiter aus. Dann bricht sein Kreislauf erneut durch einen »schweren  Herzkollaps« zusammen, der nur durch reichlich zugeführte Medikation stablilisiert werden kann. In den folgenden Tagen treten zunehmend Ödeme infolge der Herzschwäche auf, aber der allgemeine Zustand lässt bei den Ärzten »begründete Hoffnung auf Erhaltung des Lebens« aufkommen, auch weil der Kranke immer wieder sehr kritische Zustände überwindet.(46) Die ständigen Wechsel zwischen lebensbedrohlichen Phasen – mit der unmittelbaren psychischen Belastung durch Herzschmerzen und Todesangst – und Stabilisierung sind ein Zeichen, dass er keine Kraft mehr zum Leben hat, aber noch leben will. Ebenso sind die schwankenden Zustände ein Abbild seiner inneren Zerrissenheit.
 
Am Tag vor seinem Tod bekommt Siegfried zunehmend Herzrhythmusstörungen, was neue große Schwäche zur Folge hat. Er äußert »das Gefühl völliger Vernichtung« und »zum ersten Mal im Laufe der Erkrankung Todesahnungen. Auch dieser Zustand und ein zweiter, nicht ganz so schwerer Zusammenbruch am gleichen Tag konnten nochmals überwunden werden. Jedesmal danach war der Kranke auffallend frisch und heiter, wie überhaupt immer wieder bei ihm in seinen guten Stunden ein köstlicher Humor zum Durchbruch kam.« (47)
 
Der beschriebene Humor ist sicher seine Art, die unerträgliche Situation zu meistern. In einem Kartengruß an die befreundete Familie Ottersbach hatte Siegfried zwei Jahre zuvor konstatiert: »die Fahne des Humors bis zum letzten Athemzug schwingend«. Sein Leitsatz erhält nun, in seiner jetzigen Lage, einen tragischen Hintergrund. Denn er trifft weiterhin auf ihn zu, und seine Lebensfreude und Menschenfreundlichkeit sind unauslöschlicher Teil des ehrlichen und tiefen Wesens seiner Persönlichkeit.
 
Siegfried erkundigt sich an dem beschriebenen vorletzten Tag »auffallend viel über den Stand der Festspiele, über Einzelheiten in Bezug auf die Dirigenten und die Künstler.« (48) Seit über zwei Wochen bettlägerig und nur mit seiner Erkrankung konfrontiert, zeigt er noch einmal rege Anteilnahme an seiner Aufgabe und insbesondere an seinen Künstlern. Die schnelle und ausgeprägte Verbesserung der körperlichen und psychischen Verfassung, die natürlich Anlass zur Hoffnung gibt, ist ein häufig beobachtetes Phänomen bei Schwerstkranken, die kurz darauf sterben.
 
In der folgenden Nacht kann Siegfried trotz Beruhigungsmittel nicht mehr schlafen und leidet zunehmend unter Atemnot und später unter Atmungsaussetzern. Das Bewusstsein verliert er erst am Morgen des 4. August, gibt aber noch gebrochene Antworten. Am Nachmittag treten, infolge der Lungenentzündung, öfter Hustenanfälle mit massiver Verschleimung auf. Durch die Schwäche und Bewusstseinstrübung vermag er den Schleim nicht mehr auszuhusten, der sich im Mund sammelt. »Die neben dem Krankenbett stehende Oberschwester versuchte öfter, dem Kranken den Schleim vom Munde abzuwischen, was ihm aber anscheinend nicht angenehm war, notiert der anwesende Arzt. Dabei äußert sich Siegfried nämlich: »Geh weg.« (49) Obgleich er in schlimmer Verfassung völliger Hilflosigkeit ist, will er offensichtlich nur noch seine Ruhe.
 
Die Oberschwester hat offenbar nur das Nötigste unternommen, damit der Kranke nicht in seinen Ausscheidungen liegt. Ihr unterlief aber wahrscheinlich der Fehler, den Kranken nicht zu informieren, bevor sie ihm den Mund abwischte. Das Gesicht gehört zu den intimen Körperstellen und einem Bewusstseinsgetrübten ohne Vorwarnung in das Gesicht zu fassen, ruft natürlich Abwehrreaktionen hervor. Während viele Sterbende Panik vor dem Alleinsein äußern und nach Beistand verlangen, hat Siegfried keine Möglichkeit, in Ruhe allein zu sein. Das Sterben ist ein sehr intimer Lebensabschnitt. Bei dem prominenten Patienten ist ständig mindestens eine Pflegeperson anwesend, und seit dem 3. August steht er zusätzlich unter ärztlicher Überwachung.
 
Gab es einen ihm geistig nahestehenden Menschen in seiner letzten Lebensphase? Von seiner näheren Umgebung ist während seiner Erkrankung die meiste Zeit seine Frau anwesend, die aber keine Angehörigen und Freunde zu ihm vorlässt. Laut Nachtrag zum ärztlichen Bericht äußert Siegfried niemals spontan den Wunsch, jemand Anderes am Krankenbett zu sehen.
 
Die letzte sehr deutliche physische Reaktion Siegfried Wagners ist ein rein seelischer Vorgang: »Die Augen öffneten sich weit, der Blick war groß nach oben gerichtet, die Gesichtszüge wurden auffallend jugendlich, der charakteristische Gesichtsausdruck Siegfried Wagners trat scharf hervor.« Es muss ein besonderes inneres Erlebnis sein und die Befreiung aller Last, die diese Art der Veränderung, wie sie selten bei Bewusstlosen zu erleben ist, hervorruft. Wenige Minuten danach verstirbt Siegfried Wagner.(50)
 
Deutlich schreibt der Arzt von den »unmenschlichen Anstrengungen und Aufregungen während […] der Vorbereitung der diesjährigen Festspiele« und deutet an, dass »dazu dann noch große Anstrengungen körperlicher, seelischer und auch gesellschaftlicher Natur schon vorher kamen.« Als Schlusssatz steht im Bericht: »Zweifellos ist Siegfried Wagner ein Opfer der von ihm persönlich durchgeführten Vorbereitungen der diesjährigen Festspiele geworden.« (51)
 
Nachdem er sich für sein ererbtes Familienunternehmen, das seine persönliche Entfaltung behinderte, aufgeopfert hat, folgt Siegfried Wagner nach 33 Jahren seinem Freund und Leitstern Clement Harris in den Tod.


Willfried Erens


Quelle: Originalbeitrag für www.SIEGFRIED-WAGNER.org, 2011.


 

 
Anmerkungen

  1. Siegfried Wagner: Schwarzschwanenreich. Klavierauszug. Leipzig 1911, S. 72 f
  2. Ebenda
  3. Nationalarchiv Bayreuth, Sign.: NAVI A.Bf1 Nr. 1.
  4. Siegfried Wagner: Herzog Wildfang. Klavierauszug.Leip-zig 1901, S. 116
  5. Ebenda
  6. Herzog Wildfang, a. a. O., S. 150
  7. Vgl. Siegfried Wagner-Kompendium 1. Herbolzheim 2003, S. 220
  8. Claus Victor Bock: Pente Pigadia und die Tagebücher des Clement Harris. Amsterdam 1962, S. 77
  9. Herzog Wildfang, a. a. O., S. 54
  10. Bock, a. a. O., S. 245 f
  11. Bock, a. a. O., S. 93
  12. Siegfried Wagner: Sternengebot. Klavierauszug. Leipzig 1907, S. 202 f
  13. Siegfried Wagner: Sternengebot, a. a. O., S. 203
  14. Vgl. Peter P. Pachl: Genie im Schatten. München 1988, S. 417
  15. Siegfried Wagner: Schwarzschwanenreich. Klavierauszug. Leipzig 1911, S. 164/165 
  16. Siegfried Wagner: Schwarzschwanenreich, a. a. O., S. 165
  17. Siegfried Wagner: Schwarzschwanenreich, a. a. O., S. 117 und S. 113
  18. Vgl. Pachl, a. a. O., S. 393
  19. Ebenda
  20. Ebenda
  21. Ebenda
  22. Kurt Söhnlein: Erinnerungen an Siegfried Wagner und Bayreuth, Bayreuth 1980, S. 79
  23. Pachl, a. a. O., S. 353
  24. Pachl, a. a. O., S. 370
  25. Siegfried Wagner: Sternengebot. Klavierauszug. Leipzig 1907, S. 203
  26. Siegfried Wagner: Sonnenflammen. Klavierauszug. Leipzig 1915, S. 105
  27. Peter Bürger: Das Lied der Liebe kennt viele Melodien – Eine befreite Sicht der homosexuellen Liebe. Oberursel 2001, S. 18
  28. Siegfried Wagner: Der Friedensengel. Klavierauszug. Bayreuth 1915, S. 244
  29. Siegfried Wagner: Das Liebesopfer. Reinschrift, Nationalarchiv Bayreuth, Sign.: NA VI Cp3
  30. Vgl. Bürger a. a. O., S. 134
  31. Siegfried Wagner: Die heilige Linde. Klavierauszug. o. O. (Köln) o. J. (2000), S. 93 f
  32. Vgl. Pachl, a. a. O., S. 364
  33. Siegfried Wagner: Rainulf und Adelasia. Klavierauszug. Berlin 2002. S. 105-115
  34. Siegfried Wagner: Der Schmied von Marienburg. Klavierauszug. Leipzig  o. J. (1920), S. 125 f
  35. Vgl. Pachl, a. a. O., S. 346.
  36. Siegfried Wagner: Das Flüchlein, das jeder mitbekam. Text, gemäß dem Wortlaut der Partitur. O. O. (Bayreuth) o. J. (1983), S. 5 
  37. Das Flüchlein, das jeder mitbekam, a. a. O., S. 8
  38. Vgl. Pachl, a. a. O., S. 269
  39. Vgl. Pachl, a. a. O., S. 212
  40. Krankenbericht, Nationalarchiv Bayreuth, Sign. NA VI Dd-7
  41. Ebenda
  42. Ebenda
  43. Nachtrag zum Bericht von Oberarzt Dr. Körber, Nationalarchiv Bayreuth, Sign. NA VI Dd-8
  44. Ebenda
  45. Ebenda
  46. Vgl. Krankenbericht, Nationalarchiv Bayreuth
  47. Ebenda
  48. Ebenda
  49. Nachtrag zum Bericht von Oberarzt Dr. Körber, a. a. O.
  50. Vgl. Krankenbericht, Nationalarchiv Bayreuth
  51. Ebenda

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