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Symphonische Dichtung

Neben dem Opernschaffen Siegfried Wagners, achtzehn musikdramatischen Werken, ist das sinfonische Schaffen vergleichsweise gering an Umfang: erst nach Vollendung seiner neunten Oper komponierte Siegfried Wagner 1913 ein Konzertstück für Flöte und kleines Orchester, 1915 ein Konzert für Violine mit Begleitung des Orchesters, 1922 das Scherzo für Orchester Und wenn die Welt voll Teufel wär, und in den Jahren 1915 und 1927 die sinfonische Dichtung Glück! und die Symphonie in C.
 
Während die Symphonie in C erst postum zur Uraufführung gelangte, dirigierte Siegfried Wagner seine kürzeren sinfonischen Werke – meist zusammen mit Ausschnitten aus dem eigenen Opernschaffen und dem seines Vaters – häufig in Konzerten.
 
Um Siegfried Wagners erste sinfonische Dichtung Sehnsucht rankte sich hingegen bereits zu Lebzeiten des Komponisten Verwirrendes.
 
Der 1869 geborene Sohn Richard Wagners hatte schon früh Kompositionsunterricht erhalten; bereits 1882 war er von seinem Großvater Franz Liszt in Harmonielehre unterwiesen worden und komponierte als Knabe – neben obligatorischen Chorälen – bereits einen Marsch zu seinem Jugenddrama Gottfried der Spielmann (um 1882). Nach seinem Abitur (1889) bildete er sich bei Engelbert Humperdinck in Musiktheorie und Kontrapunkt fort. Dem Abschluss der Musikstudien folgten zwei Semester Architektur in Berlin und Karlsruhe. Erst auf einer Asienreise, die er im Jahre 1892 gemeinsam mit seinem Freund, dem englischen Komponisten Clement Hugh Gilbert Harris (1871-1897) unternahm, fasste er den Entschluss, »der Architektur Valet zu sagen und mich ganz der Musik zu widmen«.
 
Wahrend Clement Harris an Bord des Schiffes die Themen zu seinem sinfonischen Poem »Paradise Lost« entwarf, keimte in Siegfried Wagner der Gedanke zu einer sinfonischen Dichtung nach Schiller, die schließlich auch im selben Jahr beendet wurde wie Clement Harris' Komposition. Als offizielles Uraufführungsdatum der sinfonischen Dichtung Sehnsucht datiert der 6. Juni 1895. An diesem Tag, seinem 26. Geburtstag, leitete Siegfried Wagner die Komposition in seinem zweiten Londoner Konzert. Aber bereits im Februar desselben Jahres hatte er sein Opus mit einer Militärkapelle in Bayreuth ausprobiert und am 6. März in einem Konzert in Pest zum Vortrag gebracht, allerdings offenbar in einer von der endgültigen Version noch stark abweichenden Fassung.
 
Nach der Londoner Aufführung dirigierte Siegfried Wagner seine erste Komposition in einem Münchner Konzert, anschließend nahm der Dirigent Anton Seidl sie ins Programm seiner im selben Jahr startenden Amerika-Tournee auf.
 
Auf Anfrage eines Verlegers jedoch antwortete Siegfried Wagner bereits im Juni 1895: »für die freundliche Absicht, meine symphonische Dichtung ›Sehnsucht‹ verlegen zu wollen, bestens dankend, bedaure ich, auf dieselbe nicht eingehen zu können, da ich zunächst noch nicht die Absicht habe, dieselbe erscheinen zu lassen.« Unwahrscheinlich, dass an dieser unsicheren Haltung Hans Richters Urteil schuld gewesen sein könnte, der sich mit diesem Werk »weniger einverstanden zeigte«, denn Hans Richter »fand es zu lisztisch«, wie Siegfried Wagner in einem Brief offen zugibt. Nun ist das »Lisztische« an diesem Werk durchaus richtig erkannt und wohl auch kein Makel, denn um neben dem Werkschaffen seines Vaters als Komponist bestehen zu können und nicht in hoffnungsloses Epigonentum zu verfallen, orientierte sich Siegfried Wagner als Musikdramatiker an Vorläufern seines Vaters – Marschner, Weber – sowie Antipoden – Bizet, Mussorgski, Rossini und besonders Verdi – und als Sinfoniker an Hector Berlioz und Franz Liszt.
 
Wie Liszts sinfonische Dichtungen, so folgen auch die Vorspiele zu den Opern Siegfried Wagners einer außermusikalischen Vorlage, von der sie mehr die innere Stimmung als die äußeren Vorgänge zum Ausdruck bringen. Die sinfonische Dichtung Sehnsucht wurde von den Biographen Siegfried Wagners vernachlässigt. Paul Pretzsch, der in seinem musikalischen Führer »Die Kunst Siegfried Wagners« die bis zum Jahre 1918 entstandenen Opern und Orchesterwerke analysiert, läßt Sehnsucht unerwähnt und führt sie erst 1931, ein Jahr nach dem Tod des Komponisten, in einem Werkverzeichnis als »ungedruckte symphonische Dichtung« mit der Klassifizierung »Jugendwerk« an. Tatsächlich sind nach dem Uraufführungsjahr für über 85 Jahre keine weiteren Aufführungen der Sehnsucht nachweisbar.
 
Auf eine Anfrage Mitte der Siebzigerjahre antwortete Winifred Wagner, die Witwe des Komponisten, die Originalpartitur sei seit Kriegsende verschollen. Im Jahr 1979 fand jedoch Friedelind Wagner, die Tochter des Komponisten, in einem Speicherraum des Bayreuther Festspielhauses die bei der Lithographischen Anstalt C. G. Röder in Leipzig gedruckte Partitur mitsamt dem ebenfalls gedruckten, vollständigen Aufführungsmaterial. Nun erfolgten zahlreiche Wiederaufführungen, u. a. in Paris, Luzern, Berlin, Peking, Shanghai, Chicago und Berlin.
 
Im Richard Wagner-Nationalarchiv in Bayreuth befinden sich Fragmente einer – von der gedruckten Partitur – stark abweichenden Niederschrift des Komponisten, sowie handschriftliche Orchesterstimmen (ebenfalls Autographen des Komponisten) und Kompositionsskizzen zu einer frühen Fassung, die noch mit einer 4/4-Einleitung beginnt.
 
Zweifellos hat Siegfried Wagner an seiner ersten Partitur – ganz im Gegensatz zu seinen späteren Werken – einiges getüftelt und experimentiert, und in dieser Hinsicht handelt es sich tatsächlich um ein Jugendwerk. Doch das intensive Ringen um eine endgültige Version stellt keinen hinreichenden Grund für die Tatsache dar, dass Siegfried Wagner sein Erstlingswerk bereits ein Jahr nach der Uraufführung nicht mehr in seine Konzertprogramme aufgenommen hat. Offenbar war es weniger die Reserviertheit dem Jugendwerk gegenüber, als vielmehr die Geheimhaltung eines Rezeptes: Sehnsucht sollte nicht im Nachhinein als Opernpotpourri missverstanden werden.
 
Bereits im Jahre 1899 soll der Komponist seinen Freunden einmal beiläufig die Reihenfolge der nächsten fünf Opernpläne genannt haben: »Nr. 1 (Der Bärenhäuter) sei seinen Freunden wohlbekannt; Nr. 2 (Herzog Wildfang) werde ein Lustspiel sein, Nr. 3 (Der Kobold) einen ›sehr traurigen‹ Gegenstand behandeln, Nr. 4 (Bruder Lustig) in seinem heiteren Gehalt wieder dem Bärenhäuter verwandt sein, Nr. 5 (Sternengebot) erhielt, wenn wir nicht irren, das Beiwort eines ›romantischen Sujets‹ usw.« (Carl Friedrich Glasenapp: »Siegfried Wagner und seine Kunst«, Neue Folge ll).
 
Sehnsucht darf als ein sinfonisches Pendant zu diesem dramatisch-thematischen Arbeitskonzept angesehen werden, da hier die thematische Vorwegnahme von Material zu den dieser sinfonischen Dichtung folgenden fünf Opern Siegfried Wagners zu finden ist.

In der Vorlage, Schillers Gedicht »Sehnsucht«, sehnt sich das dichterische Ich aus nebligem Tal auf schöne Hügel: von dort erklingen Harmonien, dort herrscht ewiger Frühling. Aber den Zutritt zu jenem Paradies verwehrt ein reißender Strom. Der Dichter besteigt einen herrenlosen Kahn und segelt selbstbewusst bergauf, dem Wunderland entgegen:
 
 
 


      Sehnsucht

      Ach, aus dieses Tales Gründen,
      Die der kalte Nebel drückt,
      Könnt ich doch den Ausgang finden,
      Ach wie fühlt ich mich beglückt!
      Dort erblick ich schöne Hügel,
      Ewig jung und ewig grün!
      Hätt ich Schwingen, hätt ich Flügel,
      Nach den Hügeln zög ich hin.
       
      Harmonien hör ich klingen,
      Töne süßer Himmelsruh,
      Und die leichten Winde bringen
      Mir der Düfte Balsam zu,
      Goldne Früchte seh ich glühen,
      Winkend zwischen dunkelm Laub,
      Und die Blumen, die dort blühen,
      Werden keines Winters Raub.
       
      Ach wie schön muß sichs ergehen
      Dort im ewgen Sonnenschein,
      Und die Luft auf jenen Höhen,
      O wie labend muß sie sein!
      Doch mir wehrt des Stromes Toben,
      Der ergrimmt dazwischen braust,
      Seine Wellen sind gehoben,
      Daß die Seele mir ergraust.
       
      Einen Nachen seh ich schwanken,
      Aber ach! der Fährmann fehlt.
      Frisch hinein und ohne Wanken,
      Seine Segel sind beseelt.
      Du mußt glauben, du mußt wagen,
      Denn die Götter leihn kein Pfand,
      Nur ein Wunder kann dich tragen
      In das schöne Wunderland.
       
      Friedrich Schiller
       

 

 
 
Siegfried Wagners sinfonische Dichtung transkribiert den metaphysischen Gehalt dieser Vorlage: aus dem dichterischen Ich wird das Ich des Komponisten, der in seiner ersten Orchesterkomposition den jüngst, auf der Asienreise gefassten Entschluss, Komponist zu werden, manifestiert: er glaubt an seine künstlerische Potenz und wagt die Herausforderung, an Vater und Großvater gemessen zu werden.

Wie Schillers Gedicht in vier Strophen, so gliedert sich Siegfried Wagners Komposition in vier Abschnitte. Der erste Abschnitt, ein Adagio in d-Moll (3/4), zeichnet zunächst die düstere Stimmung der ersten beiden Verspaare. Zum D-A-Orgelpunkt ertönt ein lethargisch absteigendes Motiv, dem wir in der Kobold-Partitur als lastendem Druck auf die Hauptfigur Verena wiederbegegnen werden. Das Sehnsuchtsthema – im Kobold ist es das Thema des Zaubersteins, der Verena auf wundervolle Weise geschenkt wird, der ihr verloren geht und den sie erst im Moment ihres Todes als glänzenden Tautropfen wiedererlangt – wird erstmals vom Englischhorn angestimmt. Ein Aufschrei der Violinen führt in das Thema der Klage, dem wir ebenfalls im Kobold wiederbegegnen. »Etwas bewegter« erklingt in den Fagotten ein entschlossenes Thema an, während das lethargische Motiv verkürzt wird. Seiner Durchführung mit dem Klagethema schließt sich enttäuschte Verzweiflung an – sie ertönt auch später in Reinharts Jugenderzählung in Herzog Wildfang – zugleich vermischt mit der bangen Frage (Bruder Lustig), ob denn der Ausweg noch auffindbar sei.
 
Der zweite Abschnitt in D-Dur (3/4) setzt »Ruhig bewegt« (in den Skizzen »Andante dolce« genannt) mit dem zur Verheißung gewandelten Sehnsuchtssthema ein, den »Tönen süßer Himmelsruh« des Schiller-Gedichts entsprechend – eine Paraphrase zum Gebot des Herzens im Vorspiel 2. Akt Sternengebot. Der Entschluss, die Reise zu wagen, ertönt in Fis-Dur (6/8) mit einem Thema, das später als Friedrichs Liebeslied »Weh Lüftchen, weh mein Lied hinan zur Höh!« aus dem Kobold bekannt geworden ist. Aber Verzweiflung (Herzog Wildfang) und das Leid (Der Kobold) mischen sich erneut hinzu.
 
Nochmals erklingt die Verheißung (3/4) in F-Dur. Bewegter, sehr fließend, ertönt in Flöten und Klarinetten das später als Hornruf in den Bärenhäuter eingegangene Motiv als Antwort auf die Verheißung, während das Liebeslied weiter durchgeführt wird. Bevor der Ruf auch in dieser Partitur vom Horn ertönt, mischt sich nochmals, etwas rubato, das Leiden in den Aufschwung, doch »in immer freudigerer Erregung« sinnt und träumt – ebenfalls ein im Bärenhäuter verwendetes Motiv – das Individuum vom Paradies. In der stellenweise polyrhythmischen Durchführung über D- nach F-Dur modulierend, klingt noch eine weitere Bärenhäuter-Antizipation – Hans Kraft als Soldat – an. Unsicherheit mischt sich ein, ob das Vorhaben auch gelingen mag.
 
»Immer leiser, wie verlöschend« mündet die Durchführung in den 3. Abschnitt: »Allegro, alla breve« (in den Skizzen als »Agitato«, auch als »AIIegro tempestuoso« bezeichnet) braust des Sturmes und des Stromes Toben mit einem tatkräftigen Motiv, dem sich das verkürzte Leid-Thema anschließt; sehr bewegt, mit dreifachem Forte, schildert es das Leiden als den Urheber des Dranges, dem Paradies zuzustreben. Dem frei im Zeitmaß vorgetragenen Sehnsuchtsthema schließt sich ein meno mosso an, dem »viel bewegter« (alla breve) eine aus dreitaktigen Perioden gebaute Schilderung des permanenten Aufstiegs folgt. Hierauf erneut, in ruhigem Tempo, das Sehnsuchtsthema, das dann »sehr bewegt«, in F-Dur, mit dem Liebeslied durchgeführt wird, danach kraftvoll erklingt, »sehr Iebhaft« vorantreibt und lichter werdend, nach D-Dur überleitet.
 
Der vierte Abschnitt beginnt »ruhig und vornehm«, in den Skizzen »Andante maestoso« genannt: in den Blechbläsern ertönt das spätere Schicksalsthema der Oper Sternengebot – wie dort in D-Dur, hier jedoch mit punktierter zweiter Achtel. Bekräftigend kontrapunktiert das Liebeslied, aber auch das Leid, das den Impuls zur Fahrt gegeben hatte. In der Coda stimmen die Violinen nochmals »sehr zart« das Thema der Sehnsucht an.
 



Quelle: Peter P. Pachl, Beiheft zur CD »Symphonic Poerms« mit Werner Andreas Albert und dem Staatsorchester Hamburg bei cpo (mit freundlicher Genehmigung des Autors; aktualisiert: 4.2024)
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