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Von Entwurzelten und suizidalen Verhältnissen

Internationale Siegfried Wagner Gesellschaft e.V., Bayreuth

 

Kranke Gesellschaft

Die Menschen in Sonnenflammen sind das zeitlos gültige Abbild einer suchenden, unausgewogenen Gesellschaft, in der alle Beteiligten unabhängig von Kultur und Machtverhältnissen an gesellschaftlichem Druck oder ihrem Individualisierungsdrang zerbrechen.

Gleich zu Beginn der Oper wird Fridolin von einem gequälten Bettler mitverflucht. Einer repräsentativen, elitären Gruppe zugehörig, ist er mitschuldig und kann vor den gesellschaftlichen Missständen die Augen nicht verschließen. Iris weist Fridolins Liebe zurück – vordergründig, weil er sein Kreuzzugsgelübde nicht hält und zudem schon eine Gattin sowie Freundin in der Heimat hat.

Sie hat einerseits recht mit ihrem Vorwurf, aber es stellt sich die Frage, warum Fridolin häufig seine Partnerinnen wechselt. Zog er unter dem Vorwand des Kreuzzuges in den Süden und suchte dort nach Verständnis, Wärme? Liebte er seine Frau in der Heimat? Ein von unerfüllbaren Sehnsüchten Getriebener, der menschliche Defizite ständig durch neue Abenteuer auszugleichen sucht? Iris fühlt sich ihrer Heimat auch nicht verbunden; weiß aber, dass beide in der Ferne Fremde bleiben. Sie beweist Weitblick mit ihren Bedenken; hängt aber an einem überhöhten Ideal, wonach sie nur jemand lieben zu können glaubt, der dem »nordischen Heldentum« entspricht. Sogar seinen Tod würde sie hinnehmen, nur dass sie ein Idol bewundern könnte! Dass Fridolin sie wohl wirklich liebt, kann sie nicht glauben – sie ist nicht in der Lage, seine Liebe und ihn so anzunehmen, wie er ist. Oder ist ihr Ausruf: »Reiß dich los von mir und ich will dich lieben!« auch als Gegenentwurf des Loslassens zu »Tristan und Isolde« zu sehen?

»Sumpf-entglühtes holdes Irrlicht« wird Iris von ihrem Vater Gomella schmeichelnd genannt, was ein Hinweis ist auf  ihre Herkunft aus dem Sumpf der byzantinischen Gesellschaft bietet, aber zugleich darauf hinweist, dass sie gleichwohl eine begehrte, edle Frau ist. Interessant ist auch das Verhältnis Iris zu ihrem Vater, als sie den ängstlich Zusammengekauerten aufhebt mit der Forderung: »Bist Du ein Mann!«, worauf er nur antworten kann: »Wär ichs doch!« und mit schauspielerischem Talent eine herzergreifende Abschiedsszene inszeniert. Gomella verteidigt, hier in einer ironischen Wortspielerei, die Idee vom gleichen Besitz für alle (»Nun müsste doch auch sein, – mein sein!«). Er repräsentiert die menschliche Neigung, um jeden Preis zu leben und kompensiert Schuldgefühle durch seine eigene humorvolle Lebensphilosophie. Als geistvolle »Memme« bezeichnet er sich selbst – im Gegensatz zu den rabiaten Kreuzrittern. Das Zitat aus seinem Monolog: »Ich lieb nun mal die Memmen! Denn ich liebe mich selbst und habe allen Grund dazu! Süßer Gomella!« ist ein Hinweis auf eine narzistische Lebenshaltung und Homosexualität. Nach welchen Werten er wirklich leben soll, ist er sich wohl auch nicht sicher, so dass es ihn quält, »ob Gott mich einst, oder der Satan erwählt«.

Ein zentrales Thema ist die Entwurzelung der Menschen; ihr Suchen nach Erfüllung in der Ferne. Auch Nebenfiguren, wie der Winzer im 2. Akt, fühlen sich einsam. Während er seiner wahren Zuneigung zu seiner in der Heimat verbliebenen Geliebten Ausdruck verleiht, erkennt die Kaiserin, dass sie ungeliebt und für ihren Mann nicht mehr interessant ist, weil sie ihm keinen gesunden Erben schenken kann. Den Mann, zu dem sie »ein ungestilltes Sehnen zieht«, vermag sie nicht an sich zu binden, was auch eine einseitig freiwillige Verbindung wäre und kein Glück bringen würde, wie es musikalisch durch das Auftauchen des Andreasnachtmotivs aus Bruder Lustig zum Ausdruck gebracht wird. Ihr kommen Suizidgedanken und sie befragt Eustachia nach deren Schwester, welche von ihrer lieblosen Umgebung in den Freitod getrieben wurde. Kritik an der Institution Kirche wird laut, die den in den Freitod Gegangenen ein Begräbnis verweigert und die »zerrissenen Seelen« ignoriert.

Auch Kaiser Alexios sehnt sich im Innersten nach erfüllender Liebe. Die innere Leere äußert sich bei ihm in rücksichtsloser Vergnügungssucht und führt psychosomatisch zu Herzkrämpfen. Der – offenbar durch Lieblosigkeit und die Erwartung der Umgebung, Stärke zu demonstrieren – hart gewordene Mann ist durchaus zu Empfindungen fähig, was in seinen Annäherungsversuchen zu Iris auch musikalisch zum Ausdruck kommt. Gereizt durch das »sanft-heilig Duldende« seiner Frau sucht er nach einem starken Halt, braucht eigentlich einen Willen, der ihn (be-) zwingt.

Ein gesellschaftliches Problem sind auch die bürgerlichen Konventionen, nach denen das Glück, nur leben zu können, ein Ehrverlust ist. So wird die Wahl Fridolins, statt sich hinrichten zu lassen, als Hofnarr weiterzuleben, ein Akt der Entwürdigung. Fridolin wird vollends zum Außenseiter der Gesellschaft. Aufschlussreich ist die Begegnung Fridolins mit dem Kreuzritter Gottfried, dessen Doppelmoral ein typisches Gesellschaftsphänomen darstellt. Eine Facette der Kreuzzüge ist, dass es gerade bei den Verteidigern des Christentums auffällt, wie sie beim Versuch zu verzichten, besonders aggressiv werden können. Durch seinen unerwartet in Byzanz angereisten Vater erfährt Fridolin vom Leid seiner heimgebliebenen Gattin. Diese beginnt nach tiefer Depression wieder auf ihren Mann zu hoffen, verzehrt sich aber in unerfüllten Sehnsüchten. Nach Fridolins Geständnis, nicht die Erwartungen der Familie und Umwelt erfüllt zu haben, wird er auch vom Vater verstoßen und so in eine ausweglose Situation gebracht: er gehört nirgends mehr dazu – verzweifelt und innerlich vereinsamt zerbricht er.

Bezeichnend ist die diskriminierende Wortwahl des Vaters, typisch für den Umgang mit Außenstehenden der Gesellschaft zur Entstehungszeit des Werkes: »Entarteter! Verruchter Sohn!« Möglicherweise ein autobiographischer Hinweis auf die Erwartungshaltungen der Umgebung, denen der Autor nicht entsprach! Auffällig ist auch die Willkür des Vaters, als Verfechter von Kirche und Moral, den Sohn zur Selbsttötung aufzufordern und bewusst in den Tod zu treiben!

Der Umgang mit dem Freitod und dessen Vertuschung in der Gesellschaft wird auch deutlich durch Alexios Reaktion, als er vom Freitod seiner Frau erfährt. Die gleiche Thematik ist etwas später auch in Siegfried Wagners Oper Der Friedensengel zu finden. In Fridolin flammt kurz Aggressivität gegen den lebenslustigen Gomella auf, die er aber bald gegen sich selbst richtet. Er gibt sich nun wehmütigen Erinnerungen an seine Heimat hin. Ihm wird der Zwiespalt zwischen seinen Wurzeln und seinem Naturell bewusst. Es zog ihn vom kalten, konventionellen Norden zu »anders wehenden schwülen Lüften«. Vergebens versucht er sich diesen zu entziehen; er würde seine eigene Natur, seine Sehnsüchte verleugnen. Nicht mehr ernst genommen, durch Enttäuschungen geschwächt, entschließt sich Fridolin zum Freitod, obwohl ihm Gomella soeben versicherte, Iris würde nur ihn lieben!

Fridolin zieht sich von seiner Umwelt gleichgültig zurück – typisches präsuizidales Syndrom – und wird mit Gewalt zum Fest geschleppt, wo er entschlossen den Suizid durchführt. Er wählt den spektakulären Freitod in der Öffentlichkeit (vorne, im Mittelpunkt der Bühne). »Fort von mir!« ruft Fridolin den sich um ihn Bemühenden entgegen. Er will keine der ihn bedrängenden »geschminkten Larven« an sich lassen. Sie sind ihm mit ihrem geschäftigen Treiben fremd und nicht in der Lage, mit der Lebensmüdigkeit der Situation des Sterbens umzugehen. Assoziationen kommen auf zu den überlieferten letzten Worten Siegfried Wagners: »Geh weg!« – eine erschütternde Symbolik für das Bedürfnis, in der intimen Phase des Sterbens allein sein zu wollen, weil ein wirklich nahestehendes Wesen fehlt. Die Figur Fridolin steht so auch für die vereinnahmende Liebe von Mitmenschen, die seinem Wesen inadäquate Forderungen stellen. Er stirbt einsam, umgeben von Menschen, die sein inneres Wesen nicht verstehen; nur Iris lässt er an sich heran. Sie begreift wohl, wie gefühllos der Kreuzritter Gottfried ist, der nicht bemerkt, dass Fridolin im Sterben liegt:

    Gottfried: »Fridolin? Du? Was ist? Auf! Mit uns!«
    Iris: »Stör` eines Sterbenden Ruhe nicht!«
    Gottfried: »Wie?«

Auffällig ist die mehrfache Beschäftigung mit dem Freitod in diesem Werk: Es entstand, als in Deutschland die Suizidrate laut älteren Statistiken stark anstieg (1911/1912; nach: Michael Haller [Hrsg.],  »Freiwillig sterben – freiwillig?«, Reinbek 1986, S. 33), in einer Zeit der sozio-kulturellen Brüche. Menschen reagieren mit individualistischen Tendenzen auf eine durchreglementierte Gesellschaft und auf einen autoritären Staat. Aber da zum Lebensglück auch die Übereinstimmung mit der Umwelt gehört, bewirkt der Verlust an sozialen Bindungen so schweres Leid, dass der Suizid vielen als Erlösung erscheint. Um nicht abzustürzen, ziehen sie sich zurück vom Leben – oder versuchen den Rückzug aufzuhalten, indem sie nach einem Ersatz für die verlorengegangenen Beziehungen suchen; wie es bei Alexios, den Byzantinern, auch bei Gomella zu beobachten ist. Von Eustachias Schwester ist nur bekannt, dass sie durch Lieblosigkeit und Alleingelassenwerden in den Freitod getrieben wurde und ihr Kind mitnahm. Die Kaiserin wählt bewusst den gleichen Weg, fühlt sich ebenfalls ungeliebt, überflüssig und benutzt, die Leere ihres materiellen Überflusses erkennend. Ihr Freitod kann auch als ein auf sich selbst verschobener Racheakt an den Mitmenschen gedeutet werden, auch weil beide Frauen ihre Kinder mit in den Tod nehmen, eine auf die Umwelt übergreifende Aggression oder ein Bewahrenwollen vor dieser Welt. Bei Fridolin kommt der Druck durch die Prinzipien Ehre und Pflicht hinzu, die vor allem beim Militär mehr gelten als das individuelle Leben.

Zur Zeit der Kreuzzüge galt das unglückliche Individuum, das sich aus Verzweiflung umbringt, als abschreckendes Exempel für den Zweifel am rechten Glauben. Fridolin sucht ursprünglich das Leben, aber in seiner aussichtlosen Situation scheint für ihn der direkte Suizid die lösungssicherste Problembewältigungsstrategie zu sein und – paradoxerweise im Tod – die letzte Möglichkeit, doch noch anerkannt zu werden, etwas Autonomie zurückzugewinnen.

Abschließend lässt sich festhalten: Menschen schaffen ihren Mitmenschen häufig suizidale Situationen und treiben andere in eine selbstzerstörerische Lebenshaltung, durch die Unfähigkeit von Menschen, zu lieben und Liebe anzunehmen, durch Schuldkomplexe, Verdammung von Außenseitern, Verlustsituationen, das überall Fremdsein. Lockere menschliche Beziehungen oder nur scheinbar funktionierende, in denen der Einzelne einsam, oft unverstanden ist, sind gesellschaftliche Missstände, die bis heute beklemmende Aktualität haben und auch durch äußere Veränderungen, wie Machtwechsel, nicht verbessert werden.


Sandra Erens


Quelle: Mitteilungen der Internationalen Siegfried Wagner Gesellschaft e.V., Bayreuth, XXXIII 2004 (mit freundlicher Genehmigung der Autorin)
 
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