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Jonathan Carrs Vermächtnis

Um es vorweg zu sagen: Selten kann ein Buch solches Lesevergnügen bereiten wie dieses. Was Carr da geschrieben hat, ist ein Genuss. Dieses kulturhistorisch-musikalische Zeitbild zweier Jahrhunderte reiht sich würdig in die Folge der großen, erratischen (Richard und Siegfried-) Wagner-Monographien eines Martin Gregor-Dellin, eines Joachim Köhler oder Peter P. Pachl ein. Doch es wurde auch zum Schwanengesang seines Autors. Jonathan Carr, der glänzende britisch-deutsche Schriftsteller, der dreißig jahre lang Auslandskorrespondent der Financial Times war, und Biograph u. a. so grundverschiedener Naturen wie Helmut Schmidt und Gustav Mahler ist, verstarb an seinem Wohnsitz Königswinter unvermutet am 12. Juni 2008 mit nur 66 Jahren, zwei Tage nach der deutschen Erstveröffentlichung seines 2007 bei Faber und Faber in englischer Sprache erstmals publizierten Buchs.
 

 

Wer als Autor an eine chronikähnliche Darstellung der Wagner-Familie herangehen will, wird ungewohnt konstatieren müssen, dass die seit Richard Wagners Geburt verflossenen 200 Jahre  durch bloße drei (!) Künstlergenerationen geprägt wurden (sieht man von der allerneuesten Epoche ab). Über die erste Epoche, die allgemein bekannte Richard-Cosima-Zeit erfährt man nicht allzuviel Neues (zumindest bis 1883), doch zeigt sich in der breiten Würdigung der Protagonisten der zweiten Generation, wie sehr Carr die Person Siegfried Wagners und seines direkten Umfelds am Herzen liegt. Carr ist vielleicht neben Peter P. Pachl der einzige Wagner-Biograph, der Siegfried und besonders seinem Werk die wohlverdiente, leider ansonsten kaum ihm zugesprochene Anerkennung zollt. Siegfrieds plötzlichen Tod, 61jährig 1930, interpretiert Carr als Folge nicht nur künstlerischer Überarbeitung, sondern auch als Ergebnis chronischer psychischer Zerrissenheit, in die ihn seine, der Umgebung sorgfältig verheimlichte Homosexualität führte. Houston Stewart Chamberlain, der als Ehemann von Richards zweiter Tochter Eva und meist als unangenehme Erscheinung in Wagner-Biographien zur Seite geschoben wird, erfährt eine breite Darstellung. Ehefrau Winifred dagegen wird überraschend knapp abgehandelt, wahrscheinlich war Carr der Meinung, dass Brigitte Hamann hierzu bereits genug und insbesondere Kolportiertes ausgesagt habe.
 
Dritte Generation: Kritisch, wenngleich objektiv steht Carr Friedelind Wagner gegenüber. Siegfrieds älteste Tochter, meist als Widerstandskämpferin gegen ihre stark angebräunte Mutter Winifred gewürdigt, muss sich dagegen von Carr mancher offenkundiger rassistischer Vorurteile und eine gewisse Bewunderung für Hitlerdeutschland zeihen lassen. Denn sie ließ sich öfters über Juden und Schwarze negativ aus. Carr führt des weiteren die sog. Einem-Affäre, über die ansonsten wenig bekannt ist, bei der Friedelind den Familienschmuck ihres zeitweiligen Geliebten Gottfried von Einem aus der Schweiz ins angeblich sichere Frankreich schmuggelte, diesen aber versetzte und ihn später nicht mehr einlösen konnte. Wieland Wagners dubiose, bis heute nie endgültig aufgeklärte Rolle in Zusammenhang mit dem Bayreuther Institut für physikalische Forschung, das vom Ehemann seiner Schwester Verena Bodo Lafferentz geleitet wurde, ist wie dieser Gegenstand eines weiteren ausführlichen Kapitels. Lafferentz stand an der Spitze der KdF-Organisation und war einer der leitenden Direktoren des Volkswagenkonzerns. In dem erwähnten Insitut, einer Art Außenstelle des KZ Flossenbürg, arbeiteten knapp 100 Häftlinge an der Entwicklung von Fernlenkwaffen. Wielands einzige persönliche Aussage dazu ist, dass er stellvertretender ziviler Leiter dieser Einrichtung gewesen sei, aber dieses wissenschaftliche Institut war Teil des KZ-Systems. Jonathan Carr schließt sein Buch etwas unpassend mit erhobenem Zeigefinger, den Wagners zurufend: Geht in euch, noch ist Zeit zur Umkehr. Er fordert die Ausarbeitung und Veröffentlichung einer wissenschaftlich fundierten Geschichte der Familie durch das Bayreuther Wagner-Archiv, er verlangt die Öffnung des Wagner-Geheimfundus in München, um mehr Licht auf die Wahnfried-Hitler-Verbindung zu werfen und schließt mit einem Vergleich mit den Berliner Philharmonikern, die ihre (nach Meinung Carrs) „propagandistische Schlüsselrolle unter den Nazis“ durch eine Sonderausstellung 2007 öffentlich zugegeben hatten, was von der Öffentlichkeit positiv aufgenommen worden sei, und empfiehlt den Wagners, „sich diese Lektion zu Herzen zu nehmen“.
 
An einigen Stellen ist die (ansonsten vorzügliche) deutsche Übertragung ärgerlich. Im Englischen gibt es kein dem deutschen (Theater)-Regisseur entsprechendes Wort, sondern nur einen producer. Diesen darf man aber in der Übertragung keineswegs zum Produzenten werden lassen, wie es die Übersetzung Heinz Tietjen und Wieland Wagner widerfahren lässt. Reichsbühnenbildner Benno von Arent avanciert dabei sogar zum Naziproduzent. Die Note h (im Deutschen) heißt im Englischen b, das deutsche b dagegen auf englisch b flat. So wurde im Text aus Liszts h-moll-Sonate eine b-moll-Sonate. Unangebracht ist weiterhin in einem Buch dieses Anspruchs, bei der Darstellung allgemein erfolgreicher Vorgänge die Interjektion Bingo zu verwenden. Und was den Verlag veranlasst haben mag, im Umschlagtext reisserisch von den Wagners als Deutschlands berühmt-berüchtigster Familie zu sprechen, bleibt unklar.
 
Dennoch: Eine glänzend, bisweilen feuilletonistisch geschriebene, auch für Leser ohne Vorkenntnisse zur Wagner-Historie fesselnde Darstellung, darin sicherlich geeignet, ein Bestseller zu werden. 


Gunnar Strunz

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