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„ ... müsste der Sohn dafür büßen?“

Internationale Siegfried Wagner Gesellschaft e.V., Bayreuth

 

Zur vorgeburtlichen Schicksalsbestimmung in
Der Kobold und Schwarzschwanenreich

Den Ausgangspunkt der nachstehenden Betrachtungen bildet ein kurzer Dialog aus dem Kobold zwischen einem Mädchen und einem der vier wandernden Schauspieler, Trutz (I.6). Trutz hat soeben die Geschichte der dunklen Abkunft des jungen Grafen erzählt, dessen Vater, der »Falschgraf«, angeblich der Zauberer Laurin selber, auf unbekannte und wahrscheinlich verbrecherische Weise (es kostete »Blut, Schweiss und Thränen«) zu unermesslichem Reichtum gekommen sei. Durch diesen konnte er nicht nur die Grafenkrone erkaufen, sondern es war ihm auch möglich, für seinen Sohn die Hand der Tochter eines echten Grafen zu erlangen. An dieser Stelle der Erzählung angelangt, wird Trutz von einem Mädchen unterbrochen, das starke Zweifel an der Rechtlichkeit dieser Heirat äußert: »Aber wenn der Vater ein Zauberer war?« »Leise« und in sich gekehrt entgegnet Trutz mit einer Gegenfrage: »(...) und wär' es so, müsste der Sohn dafür büßen?«

Aus dieser musikalischen Symbolik spricht zweierlei: tiefe Traurigkeit, die auch in der Orchesterbegleitung zum Ausdruck kommt (z.B. im e-moll-Septakkord auf »wär' es so«), und auf der anderen Seite die im Leben des Grafensohns wirkende Diabolität, bedingt durch seine Abkunft.

Um diese Frage, die Trutz sich stellt, soll es im Folgenden gehen: Steht das Leben eines solchen Nachkommen unter einem Fluch? Ist es zwangsläufig so, dass alles, was er beginnt, ihm selbst und anderen zum Übel ausschlägt?



Generationenpaare

Herkunft personifiziert der Komponist durch zwei Generationenpaare: die bereits erwähnte männliche Linie: Vater (»Falschgraf«) – Sohn (der Graf) und eine weibliche Linie: Mutter (Gertrud) – Tochter (die Protagonistin Verena). Auch Verena hat eine dunkle Herkunft. Sie stammt von einer Mutter, welche die Mörderin eines früher geborenen Geschwisters der Verena, eines »Brüderchens«, ist, dessen Seele keinen Frieden finden kann und in der visionären Gestalt eines Geistes, des Kobolds Seelchen, umherirrt. Bezeichnenderweise beschreibt Wagner hier Generationslinien, die sich aus zwei Personen zusammensetzen, aber keine Familien darstellen. Nicht genannt werden Verenas Vater und des Grafen Mutter. Allerdings erfolgt ein negativer Hinweis auf den Vater Verenas durch eine Bemerkung der Zofe Jeannette über die »Dirne, die nicht einmal weiß, wer ihr Vater war!« (II.3) Auf diese Beleidigung entgegnet Verena mit einem unvollständigen Satz, der eine Drohung enthält: »Das sollst Du mir – « Das fehlende Wort ist vermutlich: »büßen«. Warum spricht Verena das – von Wagner im Vorhergehenden im Sinne eines Verhängnisses gebrauchte – Wort nicht aus? Zielt diese Entgegnung auf eine tiefere Bedeutung, die nicht nur durch die Beleidigung als solche zu erklären ist? Deutet sich hier – unausgesprochen – eine Parallele zwischen dem Tochtersein Verenas und dem Sohnsein des Grafen an?

Aufschluss hinsichtlich dieser Frage erhält man, wenn man die Andeutungen im Text hinzuzieht, welche die väterliche Abkunft Verenas betreffen. Hier ist der Blick auf eine Gestalt zu richten, die einen zwiespältigen Charakter hat: auf Ekhart.

 


Kommentierende Rahmengestalt

Ekhart, eine kommentierende Rahmengestalt, die Verenas Lebensweg (»Fern bin ich nah.« I.2) begleitet, wird durch zwei gegensätzliche Bezeichnungen charakterisiert: Verena nennt ihn Vater, Gertrud dagegen spricht von ihm als dem »Zauberer«. Das ist jedoch eine Chiffre, die Wagner bereits reserviert hat: für den Vater des Grafen. Gibt es unterirdische verwandtschaftliche Bindungen zwischen dem »Zauberer Laurin« und dem Vater Verenas? Der Herkunftsort Ekharts liegt ebenfalls im Dunkeln. Er wohnt tief im Wald in einer »Höhl'« (I.4). Er bezeichnet sich selber als »Allgeheimniss«-Hüter (III.1). Sein Allwissen bezieht sich, wie aus dem Text hervorgeht, auf das Wissen um »gut« und »böse«. Demnach scheint er eine Synthesegestalt aus »Vater« und »Zauberer« zu sein. Warum hasst Gertrud ihn und Verena, warum hat sie Verenas Bruder getötet? War es ein anderer als ein »bloßer« sozialer Beweggrund?

 


Schwarzschwanenreich

An dieser Stelle stoßen wir an Grenzen direkter Aussage der Oper Der Kobold. Sie enthält Andeutungen, die Wagner hier nicht ausgebaut hat, die aber als Anschlussstellen an Gedankenwege erscheinen, die in einem anderen Werk weitergeführt wurden. Es handelt sich um die Oper Schwarzschwanenreich, die sieben Jahre später vollendet wurde und die man als Gegenstück oder Ergänzungswerk zu Der Kobold bezeichnen kann. Es liegen offensichtlich verwandtschaftliche Verbindungslinien zwischen beiden Werken vor, und davon ausgehend kann man zu dem Schluss kommen, dass Wagner mit Opus 7 nachträglich eine »Vorgeschichte« zu Opus drei geschaffen hat. Unternimmt man den Versuch, die Linien hervorzukonstruieren, so lässt sich daraus die im Kobold nicht erzählte Vergangenheit Gertruds spekulativ ableiten.

Die ins Auge fallenden Hauptträgerinnen der Werkverwandtschaft sind allerdings die jeweiligen Protagonistinnen: Verena und die Waise Hulda. Ebenso wie Verena wird auch Hulda begleitet von einem Kobold bzw. der Seele eines getöteten Kindes, hier als »Wechselbalg« bezeichnet; ebenso wie sie stirbt auch Hulda um des Seelenfriedens des Kindes willen einen Opfertod. Allerdings besteht in beider Verhältnis zu diesem Kind ein eklatanter Unterschied: während Verena schuldloses Opfer ist, handelt es sich bei Hulda um die Mutter und Mörderin des Kindes selbst. (Damit ähnelt sie eher Gertrud, mit der sie allerdings – zumindest auf den ersten Blick – charakterlich wenig Züge gemeinsam hat.)

 


Wechselbalg und Seelchen

Auch der Wechselbalg unterscheidet sich wesentlich von Seelchen: Er ist das Kind einer »Hexe« (der »Teufelsbuhle« Hulda) und des Satans, des Herrn des Schwarzschwanenreichs – ein unterirdisches, an einem See gelegenes Schloss, das von schwarzen Schwänen bewohnt wird. Seine Missbildung (es ist schwarz-weiss gefleckt und hat Krallen) zeugt deutlich von seiner halb menschlichen, halb satanischen Abkunft. Dieses lebendige Zeichen ihrer Zugehörigkeit zum Schwarzschwanenreich versuchte Hulda zu vernichten, indem sie das Kind tötete – jedoch vergebens: der Wechselbalg konnte keine Ruhe finden. Er reckt sein Ärmchen durch das (an einem See im Wald gelegene) Grab, die Mutter an ihre Tat und die Sühne mahnend. Hulda hat – anders als Gertrud – ihr Schicksal auf sich genommen und – auf eine gegebene Befreiungsmöglichkeit Verzicht leistend – mit dem Feuertod gesühnt.

Dass Gertrud ebenfalls Angehörige eines »Schwarzschwanenreiches« gewesen sein kann, darauf deuten v. a. bestimmte szenische Versatzstücke hin: z. B. das Schloss des Grafen in einem Park, in welchem Blumen blühen, die wie verzauberte Menschen aussehen (II.4), an einem See befindlich, auf dem Schwäne schwimmen, sowie das Grab des Kobolds an einem See im Wald.

Als einen weiteren Hinweis kann man folgendes Verhalten Gertruds sehen: in der 4. Szene des I. Akts forscht sie Ekhart aus, der Verenas Traumgespräch mit dem Kobold belauscht hat, offensichtlich um zu erfahren, ob Verena etwas über die Ermordung des Kindes weiß. Sie spricht »mit erzwungener Gelassenheit«, um diese Angst zu kaschieren. Die von Ekhart geschilderte Unruhe Verenas im Traum bagatellisiert sie vorsätzlich mit einem Ausspruch, der einen Doppelsinn zu haben und auf ihre Vergangenheit zurückzuweisen scheint: »Hat gestern genascht, 'was Dummes erhascht! Kenn' sie selber – die Folgen (...)!«

 


Verwandschaft durch Verwandlung

Schon anhand dieser Einzelbeispiele kann man sehen, dass die Verwandtschaft zwischen den Opern Siegfried Wagners durch Verwandlung gekennzeichnet ist. Hierin zeichnet sich ein Arbeitsprinzip des Verfassers und Komponisten ab: das von ihm in seinem musikdramatischen Schaffen verwendete Zeichenarsenal (dazu zählen Personen, Requisiten, musikalische Motive etc.) ist einem Prozess der Metamorphose unterworfen: bestehend aus Demontage und Neukonstruktion. Auf diese Weise werden die zugrundeliegenden Gedanken von mehreren Seiten beleuchtet.

 


Musikalische Motive

Ein vergleichsweise sicheres Anzeichen für die Verwandtschaft beider Opern sind die musikalischen Motive. In der Partitur von Schwarzschwanenreich finden sich sechs Zitate von Motiven aus der Partitur des Kobold. An diesen Zitatstellen ist die Gewebestruktur beider Partituren sozusagen identisch. Es handelt sich um folgende Motive: Das Motiv der Todesahnung Verenas (I.3) erklingt etwas verändert als das Motiv der Leiderfahrung Huldas (II.2) wieder. Auf eine Verwandtschaft des Wechselbalgs mit Seelchen deutet das Zitat dreier musikalischer Koboldfiguren der Eröffnungsszene des Kobold hin. Besonderen Stellenwert hat die Tatsache, dass die ersten vier Takte des Schwarzschwanenreich-Vorspiels eine Variation von Seelchens Wehruf (»Ach, weh mir! weh!«, I.1) bilden, die im Verlauf der Oper als Wehruf Huldas (»Weh mir! Ach weh mir!«, III.1) mehrfach zu hören ist. Weiterhin ist das Motiv, das die Erzählung des Trutz vom dunklen Geheimnis des »Falschgrafen« illustriert, verwandt mit dem Motiv, welches diejenigen begleitet, die Huldas verborgener Existenz nachspüren.

Hulda, Verena, Seelchen und der Graf werden durch dieses Motivnetz auf irrationale Weise miteinander verbunden. Die Motive bringen eine tiefer gelegene psychologische Struktur zum Klingen, die unabhängig von der Handlung existiert. Personen, die auf der Handlungsoberfläche als Gegner erscheinen, erweisen sich in dieser Tiefenwelt als identisch.

 


Deformierte Seelen

Worin liegt diese Identität begründet? Damit nähern wir uns wieder der anfangs geschilderten Situation des Grafen: Alle begangenen Taten deuten zurück auf ein älteres Geschehen, das in der Vor-Zeit der Geburt eines Menschen liegt. Sie sind Abbilder dieses Geschehens. Der Täter selbst ist bereits als Opfer ins Leben getreten.

Um welches Geschehen handelt es sich? Dies tritt besonders markant am Beispiel Huldas hervor. Auch sie bezieht sich, wie der Graf in seinem Monolog im II. Akt, auf ein Ereignis, das vermutlich vor ihrer Geburt liegt. Sie besingt ihr Schicksal in ihrem Eröffnungslied im Bild der Blume, die durch »böses Kraut« »geritzt« und vergiftet wurde. In der Sprache des NT ist das »böse Kraut« der Satan. Hier sind wohl nicht die Erlebnisse im Schwarzschwanenreich gemeint, sondern deren Voraussetzung: Huldas Destination vor ihrem Eintritt in den zeitlichen Ablauf des Lebens. Auch in ihrem Monolog am See besingt sie weniger ihre Taten, als ihre Geburt: »Was schaffst Du Menschen, die zum Jammer geboren sind?« (II.5) Durch das Bild des Ritzens wird deutlich, dass die Täterin Hulda eine Gezeichnete ist. Dieser Existenzauslegung zufolge stellt Siegfried Wagner mit den Personen seiner Werke deformierte Seelen, Versehrte des Lebens dar. Dieser Entwurf des Menschen als morbides, tendentiell oder latent verbrecherisches Wesen ist ein zeitgenössischer Zug, der sich z. B. auch bei Felix Hollaender oder Thomas Mann findet.

 


Verenas Schuld

Demgegenüber stellt sich die Frage, warum Verena unschuldig sühnen muss. So fragt Verena in ihrem Dialog mit Ekhart (III.1): »Wer den Kobold zu befrei'n berufen, warum muss der schuldlos leiden?« Ekharts Antwort: »Schuldig schuldlos ist er!« kann in ihrer Paradoxie wörtlich genommen werden: Auch Verena hat sich schuldig gemacht, wenn auch keiner Tat, so doch einer Unterlassungssünde: sie hat – aus Geltungsbedürfnis – ihr Lebensgut, den leuchtenden Stein, veruntreut. Auch sie ist eine vom Schicksal Geschlagene: vergleichbar mit Huldas Blumenlied singt sie ihr Los im Bild des blindgeborenen Vogels.

Zusammenfassend kann man sagen, dass Täterin und Opfer nur als zwei Aspekte derselben Idee erscheinen: die Geburt eines Menschen steht unter einem Zeichen. Verena: »So ist schon, eh' wir geboren, das Schicksal uns erkoren (…)?« Ausschlaggebend ist auch für den Grafen nicht eine von ihm begangene Tat. »Schuld« erwirbt, hat man nicht, sondern sie ist verwoben mit unserem Sein. »(…) ist's Schuld, wenn ich lebe?« (II.2)

 


Weiblich-männliche Linie

Ist aus diesen Gegebenheiten nach Ansicht Wagners ein Freiheitsbrief für verantwortungsfreies Handeln abzuleiten, wie es die Gräfin tut: »Sonderbarer Reiz, nur da zu lieben, wo man zerstört« (II.7)?

Wie der Werkschluss der Oper zeigt, ist dies offensichtlich nicht der Fall. Allerdings setzt Wagner, orientiert an einem mystizistischen Christentum, nichts positiv gegen die im Leben wirkende dunkle Macht (wie er auch in seinem ganzen Wesen nicht konfrontativ war). Vielmehr folgt er dem Prinzip, das Gegebene zu verwandeln, das bedeutet: zu sublimieren.

Dies manifestiert er in einem positiven Gegenstück zu den erwähnten Generationenpaaren: es handelt sich um die in der letzten Szene beschworene weiblich-männliche Linie Mutter (Maria) und Sohn (Christus).

Der Hintergrund ist folgender: in eine verhängnisvolle Zwangslage geraten, hatte Verena dem Diener des Grafen, Knorz, den Schwur zu leisten, den Anschlag, den dieser auf das Leben ihres Geliebten Friedrich plant, niemandem zu verraten. Sie bleibt diesem Schwur treu, indem sie ihn dialektisch bricht. Sie übt Verrat, indem sie ihre Mitteilung nicht direkt an Friedrich, sondern – in einem melodisch äußerst prägnant formulierten Flehgesang – an ein im Raum befindliches Muttergottesbild richtet: »Heilige Mutter des heiligsten Sohn's!« An dieser Stelle erreicht die Gesangslinie der Verena ihre höchste Ausdruckskraft. Indem sie selbst als Meineidige von Knorz getötet wird, gelingt es ihr, Friedrich zu retten.

 


Wagner zeigt mit dieser finalen Szenerie, was er bereits früher, im Titel der innerhalb der Oper von den Schauspielern aufgeführten »Comödie« (II.3) – »Eukaleia, die geraubte Nymphe oder die Macht des Gesangs« – angekündigt hatte und was sicherlich eine der Intentionen seines Schaffens war: dass der Anschlag der Übeltäter zu vereiteln bzw. der Bann des Bösen – gelegentlich – aufzuheben ist durch einen Mittler, der den Menschen mit den Göttern verbindet: die Macht des Gesangs.
 

Isolde Braune


Quelle: Programmheft zur Aufführung der kobold am Stadttheater Fürth 2005 (mit freundlicher Genehmigung der Autorin)
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