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Tochter von »Heinrich und Jretchen«

Internationale Siegfried Wagner Gesellschaft e.V., Bayreuth

 

Zum 95. Geburtstag von Ursel Gossmann

– die 1929 das ihren Eltern gewidmete Bales-Tänzchen uraufführte
 

Sie war gerade 17 Jahre alt, als sie im Sommer 1924 mit ihren Eltern Heinrich und Margarete Bales das erste Mal in Bayreuth eintraf. Ursel Gossmann, die heute [am 5. 6. 2002] ihren 95. Geburtstag feiert, war gespannt: »Die Meistersinger von Nürnberg«, »Parsifal« und »Der Ring des Nibelungen« standen auf dem Spielplan der Festspiele, die wegen des Ersten Weltkriegs und der darauf folgenden finanziellen Not zehn Jahre nicht stattfanden und deren Wiedereröffnung von ihrem Vater, einem reichen Kölner Fabrikanten aus der Farbenindustrie, finanziell unterstützt wurde.

Winifred und Siegfried Wagner mit Heinrich und Margarete Bales (v.l.n.r)

Winifred und Siegfried Wagner mit 
Heinrich und Margarete Bales (v.l.n.r
)

Ursel Gossmann erlebte also die Premiere im Jahr 1924 mit, eine Premiere, die Geschichte schrieb. »Die Meistersinger von Nürnberg« wurden zu einer Demonstration völkisch-nationaler Besuchergruppen, die bei der Schlussansprache des Hans Sachs zum Entsetzen der liberalen Presse und ausländischen Besucher aufstanden und nach dem letzten Takt das Deutschlandlied anstimmten. Als der damalige Festspielleiter Siegfried Wagner das begriff, verbot er ab sofort jede politische Kundgebung und jede offene Verbindung der Bayreuther Festspiele mit dem Nationalsozialismus. »Hier gilt's der Kunst.« Doch ab diesem Zeitpunkt war Bayreuth von den Nationalsozialisten vereinnahmt, er konnte das Steuer nicht mehr herumreißen. Vor dieser Festspielpremiere stand für Ursel Gossmann ein aufregender Besuch auf dem Programm. Im Haus Wahnfried traf sie den damals 55-jährigen Siegfried Wagner und seine 27-jährige Frau Winifred. An diesem Tag begann eine lebenslange Freundschaft der beiden Frauen.

Ursel Gossmann erinnert sich an die 20er Jahre mit Besuchen von Opern Siegfried Wagners in Weimar, die Paketsendungen des Vaters mit Delikatessen für »Frau Cosima«, der Witwe Richard Wagners, die im Jahr 1930 starb, und die unzähligen »schönen Abende« mit den Künstlern im damaligen Festspielrestaurant. […] Von 1924 bis 2000 hat Ursel Gossmann alle Inszenierungen der Festspiele gesehen. Nur den »Ring« von Jürgen Flimm hat sie wegen eines Sturzes verpasst. Freundschaften verband sie zu Heinz Tietjen, Ilse Hollweg und zu Ks. Martha Mödl. Wagnerliteratur, die Totenmaske von Siegfried Wagner, die Verleihungsurkunde für das Ehrenbürgerrecht ihres Vaters: Ihr Wohnzimmer im fünften Stock eines Hauses an der Opernstraße, das sie seit dem Jahr 1953 bewohnt, gleicht einem Wagnermuseum.

Ein Anruf von Winifred Wagner war es, der Ursel Gossmann zum Umzug nach Bayreuth bewog. Weil die Bombenangriffe auf Köln immer stärker wurden, schlug ihr die Mutter von Wolfgang Wagner vor, sie solle mit ihren Kindern und dem Hausmädchen Elise in das Wagnersche Sommerhaus nach Oberwarmensteinach ziehen. Ursel Gossmann: »Als mein Mann ausgerechnet an meinem Geburtstag im Jahr 1940 eingezogen wurde, nahm ich das Angebot an.« Ihr Mann besuchte sie für einige Tage im Fichtelgebirge, das war das letzte Zusammentreffen, bevor er im Krieg fiel. Sie lebte über zehn Jahre in Oberwarmensteinach, die meiste Zeit zusammen mit Winifred Wagner. In dieser Zeit schlief die »immer sehr hilfsbereite« Winifred Wagner viele Monate im Wohnzimmer auf dem Sofa, weil sie ihr Zimmer für eine dreiköpfige Familie freigemacht hatte.

Nachdem das Haus Wahnfried ausgebombt wurde, lebte vorübergehend auch Wolfgang Wagner mit seiner Familie im Fichtelgebirge. Später richtete er sich in dem Gärtnerhaus neben dem Haus Wahnfried eine Wohnung ein. Winifred Wagner kehrte erst im Jahr 1957 nach Wahnfried zurück. Sie zog in das »völlig geplünderte« Siegfried-Wagner-Haus, das die Amerikaner bis dahin als Kasino genutzt hatten.

Siegfried Wagner, Margarete und Heinrich Bales sowie Winifred Wagner

Siegfried Wagner, Margarete und Heinrich Bales sowie Winifred Wagner

Ursel Gossmann hatte engen Kontakt zu den vier Kindern von Siegfried und Winifred Wagner: »Mein Sohn ist nach seinem Patenonkel Wieland getauft, auf Friedelind und Verena habe ich auf dem Spielplatz aufgepasst, und mit Wolfgangs Tochter Eva auf dem Arm und meinen Kindern im Schlepptau bin ich im Fichtelgebirge vor Fliegerangriffen in den Wald geflohen. Nicht nur einmal musste ich mich mit den Kindern in den Graben werfen.« Eva Wagners Geburt am 14. April 1945 hat sie hautnah miterlebt. Sie musste mit Winifred Wagner im Keller des Hauses einem so genannten Notbehelfsarzt assistieren: »Um diesen Arzt, der im Fichtelgebirge auch nach dem Krieg praktiziert hat, gab es später das Gerücht im Dorf, dass er gar keine medizinische Ausbildung hatte. Ich weiß nicht, ob es stimmt. Aber bei der Geburt ist ja alles gut gegangen.« Verena, jüngste Tochter von Siegfried und Winifred Wagner, besucht sie regelmäßig in der Wohnung an der Opernstraße, und Wieland Wagner schrieb ihr im Jahr 1966 aus dem Krankenhaus in München kurz vor seinem Tod einen seiner letzten Briefe.

Vom Besitz ihres Vaters war nach dem Krieg nichts geblieben. Ursel Gossmann musste im Fichtelgebirge Bäume pflanzen und beim Straßenbau helfen, um ihren Kindern eine Ausbildung zu ermöglichen: »Das fiel mir als einem verwöhnten Einzelkind aus einer Fabrikantenfamilie nicht leicht.« Ihren Enkeln erzählt sie noch heute bei Ausflügen in das Fichtelgebirge, dass »der Wald dort« von ihr gepflanzt wurde. Zu Winifred Wagners Entnazifizierungsprozess im Landrätesaal der heutigen Regierung von Oberfanken und der engen Freundschaft Winifred Wagners zu Adolf Hitler will sie sich nicht äußern: »Das war eine politisch deprimierende, aber auch spannende Zeit, was die Bayreuther Festspiele betrifft. Ich kann aber auch nicht viel mehr erzählen als schon geschrieben wurde.«

Der Kölner Fabrikant Heinrich Bales erhielt am 22. August 1928 zusammen mit Robert Bartsch aus der Hand des damaligen Bayreuther Bürgermeisters Albert Preu die Ehrenbürgerurkunde. Nach den Aufzeichnungen der Stadt Bayreuth lieferten die beiden Wagnerianer und Mäzene den Grundstock für die Richard-Wagner-Gedenkstätte, die damals noch im Damenflügel des Neuen Schlosses untergebracht war. Bartsch stellte der Gedenkstätte mit rund 6.000 Büchern eine in der damaligen Zeit fast komplette Wagnerliteratur zur Verfügung. Bales, der am 19. Juni 1872 in den Tagen der Grundsteinlegung des Festspielhauses geboren wurde, unterstützte die Gedenkstätte mit zahlreichen Stiftungen und finanzierte wertvolle Ankäufe.

»Klicken« Sie hier, um das Deckblatt der Komposition vergrößert in einem neuen Fenster anzuzeigen!  (jpg: 24281 Byte)
Weitere Stichpunkte aus dem Archiv der Stadt sind die Vermerke, dass Bales in Rhöndorf Nachbar des damaligen Kölner Oberbürgermeisters und späteren Bundeskanzlers Konrad Adenauer war, er zur Wiedereröffnung der Festspiele nach dem Ersten Weltkrieg im Jahr 1924 erstmals nach Bayreuth kam und schließlich, dass er nach seinem Tod am 26. November 1954 nach Bayreuth überführt und wunschgemäß neben Siegfried Wagner beerdigt wurde.

Siegfried Wagner hat Heinrich Bales das so genannte Bales-Tänzchen komponiert. Er schickte die in Leder gebundenen Noten heimlich zu seiner Tochter Ursel nach Köln. In seinem Brief vom 30. November 1929 forderte er sie auf, bis zur Weihnachtszeit kräftig zu üben. Nun, an ihrem 95. Geburtstag, bei dem auch Wolfgang Wagner als Gratulant zugegen war, hörte die Jubilarin erstmals seit über 72 Jahren diese Komposition wieder, die sie selbst einst uraufgeführt hatte – und zwar als Mitschnitt des Konzertes vom 18. Oktober 2001 in Köln, der ihr als Geburtstagspräsent – auf Anregung des Verfassers – von Prof. Dr. Pachl im Namen der Internationalen Siegfried Wagner Gesellschaft e.V. übersandt worden war. Das Original des Bales-Tänzchens befindet sich heute im Eigentum von Urenkel Wieland Beinert in Kassel. […]


Stephan Müller


Quelle: Nordbayerischer Kurier 5.6.2002 (mit freundlicher Genehmigung des Autors; leicht gekürzt und ergänzt)
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