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Abtreibung und Kindestötung

Internationale Siegfried Wagner Gesellschaft e.V., Bayreuth

 

Schuldig-schuldlose Opfer

Zu Beginn des Werks liegt alles wie das Bühnenbild im Nebel. Was auf den ersten Blick als Märchen anmuten könnte, offenbart sich als Drama, in dem der Dichterkomponist Siegfried Wagner Autobiographisches, familiären Schuldkomplex sowie heute noch aktuelle gesellschaftskritische Themen und insbesondere die Problematik von Abtreibungen / Kindstötungen verarbeitet.

Verena wird von Kobolden (im späteren Verlauf des Werkes als Seelen getöteter Kinder beschrieben) im Schlaf bedrängt. In Seelchens (Verenas Bruder) Klage wird Verenas Unterbewusstsein symbolisiert, das mit der Erfahrung, von der Mutter nicht gewollt zu sein, und einem elterlichen Schuldkomplex belastet ist. Verena ist noch unorientiert und erkennt nicht die Ursache ihres nervösen Befindens. Die übrigen Kobolde stehen für die Bedrängung der sanften, liebenswerten Verena, wovon sie sich nur selbst befreien kann, worauf in der Klage Seelchens hingewiesen wird. Der Anspruch an ein Kind, eine „Schuld" der Mutter abzubüßen – bei Verenas Mutter die Tötung eines eigenen Kindes – erinnert an „Cosimas ungeheuerlichem Geburtstagsgruß an ihren einjährigen Sohn" (Peter P. Pachl, Siegfried Wagner – Genie im Schatten, S. 31): „Mein Kind, mein Sohn, deine Geburt – mein höchstes Glück – hängt mit der tiefsten Kränkung eines andren zusammen, dies war meine Daseins-Schuld, vergiss dieses nie, erkenne darin das Bild des Lebens und büße es ab, wie du kannst." (Cosima Wagner, Die Tagebücher, Bd. 1, München 1976; Eintragung vom 6.6.1870)

Interessante Hinweise sind auch in der Erzählung des Sängers Trutz enthalten; u. a. die Frage, warum der Sohn (Graf) für den Vater büßen muss.

Als wichtigster Mensch und ein Art Vaterersatz für Verena taucht Ekhart auf, um als erster und, außer Friedrich, einziger sich ihr an ihrem Geburtstag anzunehmen. Symbolisch, mit einem Stein, schenkt er ihr etwas Freude. Obwohl er offenbar selten anwesend ist, weiß er doch Intimitäten aus ihrem Leben („Fern bin ich nah", I/2).

Verenas Mutter erscheint, und sofort fällt ihre Lieblosigkeit auf. An den Tag der Geburt ihres eigenen Kindes will sie nicht erinnert werden. Bemüht, das äußere Bild von Ordnung und bürgerlicher Reinheit aufrechtzuerhalten, stürzt sich Gertrud in stereotype Geschäftigkeit. Den Gegensatz zu ihrer Welt voll Mühsal und Freudlosigkeit bildet die frohe Künstlerschar, die bald hinzukommt und nach Gertruds Ansicht nichtzahlende „Erzgauner" sind. Im kurzen Gespräch zwischen Gertrud und Ekhart kommt zum Ausdruck, dass sie ihn gleichzeitig emotional ablehnt und doch auf ihn angewiesen ist – wohl auch in näherer Beziehung zu ihm steht.

Verena sehnt sich nach einem anderen Leben und erlebt kurzes­ Glück durch ihre zunächst erwiderte Zuneigung zum Künstler Friedrich. Sie fürchtet den Verlust ihres Freundes, auch eine eventuelle Schwangerschaft („Fühlen wirst du seine Pein, wenn mal was dazwischen kommt", I/5) und damit die Furcht, das gleiche Schicksal der Mutter zu erleiden. In den Kreis der Künstler wird Verena nicht aufgenommen; sie kann nur ein trauriges Lied singen.

Dem Gebaren der eintreffenden Künstler steht Gertrud recht ratlos gegenüber. Diese setzen in ihrem Lied auf Gefühl, das auch in ihr verborgen ist – und Trutz lobt seine Art von Eheglück, bei dem er nur acht Tage im Jahr mit seiner Familie verbringt und ansonsten auf Wanderschaft ist. Aber Trutz muss auch etwas von Kindstötungen wissen: er spricht vor sich hin von „Wechselbalgen" und bricht ab, als er feststellt, dass alle zuhören. Gertrud kann sich nicht anders verhalten, als grob abzulenken. Verena dringt in die Mutter, was wohl der Grund für deren Lieblosigkeit sei; sie erhofft sich Zuneigung und erlebt nun etwas, was sie nicht gewohnt ist: Gertrud wendet sich weinend ab. Bis jetzt ist nur zu erahnen, was diese Frau so unglücklich und hart werden ließ. Womöglich sieht sie in ihrem Kind stets den Mann, der sie alleine zurückließ. Gertrud leidet unter den seelischen Folgen, wie sie bei Frauen nach einer Abtreibung typisch sind: Störungen in den mitmenschlichen Beziehungen, Weinkrämpfe, Verdrängungssymptomatik. Was in unserer heutigen Zeit von Psychotherapeuten und Ärzten bei Frauen, die abgetrieben haben, immer wieder beobachtet wird, stellte der Dichterkomponist in der Figur der Gertrud Anfang des 20. Jahrhunderts dar. Mit psychischen Folgeerkrankungen bis hin zu Depressionen, Selbstmordversuchen und Psychosen wurden Frauen vor allem in der  damaligen Zeit allein gelassen.

Erst im 3. Akt begreift Verena, dass „Seelchen", das in ihren Träumen erscheint, ihr früh getöteter Bruder ist. In Seelchens Klage (I/1) wird beschrieben, wie Abtreibungen praktiziert wurden:

    Die Brust zerschneiden zwei Messer mir! …
    Wer stach mich mit Eisen?
    Musst Seelchen zerreißen?

Bis ins 20. Jahrhundert hinein führten die meisten Frauen, vor allem die ärmeren, Abtreibungen selbst oder mit Hilfe von Kurpfuschern und „Engelmacherinnen" durch: In der Regel mit Stricknadeln und ähnlichen Instrumenten, was bei den Frauen zu Folgen wie starke Blutungen und Infektionen führte. In ärztlichen Praxen geschah dies durch Curettage (Ausschabung), welche auch heute noch, neben dem Absaugen, die häufigste Abtreibungsmethode ist. Für das Kind bedeuten alle Verfahren einen grausamen Tod: Es wird aus der Gebärmutter gezogen und dabei in Stücke gerissen. Die körperlichen Folgen für die Frau, vor allem innere Verletzungen, Infektionen und spätere Fehlgeburten waren in früheren Zeiten noch gefährlicher durch mangelnde Hygiene und fehlende ärztliche Betreuung. (Robert Jütte, Geschichte der Abtreibung, München 1993)

Gertrud ist als alleinstehende Wirtin ein typisches Beispiel für die verzweifelte Lage einer ledigen Frau im 19. Jahrhundert. Sie muss sich allein durchschlagen und ist mit einem unehelichen Kind der gesellschaftlichen Ächtung ausgesetzt. Zur Spielzeit der Oper (Anfang des 19. Jahrhunderts) war noch das öffentliche Auspeitschen lediger Schwangerer an der Tagesordnung; auch wollte man die Junggesellen scharf besteuern, damit sie in die Ehe treten und nicht durch ihren Lebenswandel den ledigen Schwangerschaften Vorschub leisteten.

In der Literatur taucht diese Thematik immer wieder auf, und in Siegfried Wagners Schwarzschwanenreich (1910) fällt die betroffene Frau gleich einem Pogrom zum Opfer. Johann Peter Franks „System einer vollständigen medicinischen Polizey" (3. Auflage, Wien 1786) spricht zwar von der Würde auch der unehelichen Schwangerschaften. Frank verschaffte den ledigen Mädchen in seinem Wiener Allgemeinen Krankenhaus eine Niederkunftsmöglichkeit, „doch muss man die außereheliche Zeugung ebenso zu hintertreiben suchen wie Pflichtvergessenheit und Ausschweifung in der Ehe selbst", heisst es dort.

Massiven moralischen Druck übte auch die Kirche aus. Abtreibung war aus ihrer Sicht auf jeden Fall verboten, auch dann, wenn akute Lebensgefahr für die Frau bestand und dieser Eingriff die einzige Möglichkeit zur Rettung des mütterlichen Lebens darstellte. Welche Stellung die Frau in der Gesellschaft der – gesetzgebenden – Männer hatte, zeigen auch die damaligen Überlegungen, dass Abtreibungen als Tötungsdelikt mit der Todesstrafe geahndet werden müsste, die Frau aber dem Staat nach Abbüßen einer Haftstrafe noch immer Kinder schenken könne, wobei in den Zuchthäusern auch ihre Arbeitskraft genutzt werden konnte.

Die Lage lediger Frauen verbesserte sich Anfang des 20. Jahrhunderts (zur Entstehungszeit der Oper) nicht wesentlich. Erst in der Weimarer Republik gab es erste offizielle Beratungsstellen für Schwangere. Zu dieser Zeit begannen die offenen Diskussionen um den Wert oder Unwert gesunden und behinderten Lebens, so dass auch diese Kriterien zu der Abtreibungsproblematik hinzukamen. Im Gegensatz zu den früheren entwürdigenden Situationen für das Kind und die betroffene Mutter hat sich bis heute ein Wandel vollzogen, wobei aber beim genauen Hinsehen noch immer Benachteiligungen bei ledigen oder kinderreichen Müttern bestehen und schwangere Alleinstehende vor Problemen stehen.

Ein oft vergessener Aspekt ist das Leiden der Geschwister von getöteten Kindern. Die verzweifelte Verena bricht in Wut gegen Ekhart aus, als er der Erschöpften Wasser bringt: „Trink es selber! … Garstiger! Geh' nur! Geh'!" Ebenso richtet sie sich gegen die Mutter: „Ich will nicht zur Mutter – ich will sie nie mehr sehen" (III/1). Das Ahnen und bald die Gewissheit, nicht gewollt zu sein und nur zufällig überlebt zu haben, lässt Verenas Reaktion verständlich werden. Es ist heute bekannt, dass Kinder in Familien, in denen abgetrieben wurde, spüren, dass etwas nicht stimmt: häufig träumen sie von fehlenden Geschwistern, bis sie irgendwann die Wahrheit erfahren.

Von Ekhart erfährt Verena auf ihr Fragen, was es mit ihren Träumen von Kobolden auf sich hat. Sie fasst den Entschluss sich für ihren Bruder zu opfern und ihn damit zu erlösen. Bevor es dazu kommt, spielt sich noch eine aufschlussreiche Szene im Heim von Trutz ab. Allmählich zeigen sich Abgründe auch in seinem Leben: In seinem nach eigener Beschreibung glücklichen Familienleben ist seine Frau gereizt, als er heimkehrt, und er verhält sich auch recht zerstreut seinen Kindern gegenüber. Seine Frau stellt nach dem Essen einen zusätzlichen Essensnapf auf den Tisch. Womöglich gab es auch in dieser Familie schon eine Abtreibung, denn es war noch bis zur Entstehungszeit dieser Oper der alte Brauch lebendig, für einen „Wechselbalg" ein eigenes Essen hinzustellen, da dieser nach dem Volksglauben umhergeisterte und von der Speise nahm.

Warum muss nun Verena zum Schluss als „des Stammes letztes Glied willig aus dem Leben" scheiden? Es scheint, als verarbeite der Komponist das Problem von familiärer „Schuld" und Verpflichtung durch Familienbande, wobei die Überlegung der Nichtfortsetzung der Dynastie und die letztendlich erst im Tode mögliche Befreiung die Konsequenzen darstellen.


Sandra Erens


Quelle: Mitteilungsblätter der Internationalen Siegfried Wagner Gesellschaft e.V., Bayreuth, XXXIV, April 2005 (mit freundlicher Genehmigung der Autorin) .
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