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Der Kobold als Eros

Internationale Siegfried Wagner Gesellschaft e.V., Bayreuth

 

Interpretatorische Gedanken zum Titelheld

Die erste Szene der Oper bringt eine Verkündigung. Mich erinnert sie an Gianlorenzo Berninis ambivalente Marmorskulptur »Estasi di Santa Teresa« in Santa Maria della Vittoria in Rom, bei welcher der Erzengel sehr stark einem Eros ähnelt. Theresas Ausdruck ist der des stöhnenden Orgasmus – als Erleuchtung. Verenas Kobold ist ein gefallener Engel. Verenas Stöhnen ist ein Stöhnen der Abwehr. Ihr Geburtstag ist zugleich der Tag der Initiation in die grauenvolle Geschichte ihrer Sippe, ihrer Entjungferung und ihres Todes. Die Verkündigung des Kobolds ist demnach eine Perversion.

In »Dark Eros, The Imagination of Sadism« (Spring Publications, Woodstock, Connecticut 1994) schreibt Thomas Moore: »Eros ist verknüpft mit dunklen, negativen Kräften: Chaos, Nacht und Tartaros – die wüste Leere auf dem Grunde der Welt. Ein düsterer Ort, den die Seelen auf ihrem Weg in den Hades durchschreiten, ist der Erebos, die Geburtsstätte des Eros. Erotische Erfahrung hat ihren Ursprung an diesem finsteren Platz der Seele.« (Moore, S. 23).

 
 
Dem Chaos nahe

Der Kobold kommt zu Verena, während sie schläft und träumt, dann findet er Zugang zu ihrer Psyche. »Dummes Geträum! Sag´s nur der Mutter nicht!«, wissen wir von ihrer Angst, wissen wir, dass sie etwas verschweigen will oder muss. Wir wissen nicht, was alles im Keller passiert ist. Moore informiert uns, dass »Eros immer seinem Ursprung im Chaos nahe ist und so Ordnung und Struktur bedroht« (Moore, S.23). Ebenfalls zur Zeit des Traums von Verena anwesend ist der alte Ekhart. Wer ist hier Bote oder Projektion? Obgleich er eine Schlüsselfigur für sie ist, ist er nicht ihr Vater. So wie auch Mignon Wilhelm Meister Vater nennt, und ihn doch als Kind-Frau heiß und innig liebt, nennt Verena Ekhart »Vater«. Verena weiß nicht, wer ihr Vater ist, und ihre Mutter ist barsch und lieblos. Zu Hause findet sie keine Liebe, deswegen ist sie Friedrich und Ekhart gegenüber für die Geschenke und ihre Aufmerksamkeit so dankbar.

 

 
Ekhart Bote des Kobold ?

Ekhart als Zauberer weiß gewiss von der Macht des Willens und der Kontrolle des Projizierens (Ian P. Culianu: Eros and Magic in the Age of the Renaissance, Chicago 1987). Möglicherweise ist der Kobold sein Bote. Ekhart gibt Verena einen Stein, der auf Verena wie eine Droge wirkt. »Seine Zier lockt mich so licht! Mich zieht eine Hand unsichtbar zum Tand. Ich greif' nach ihm, ich fass' ihn, und brächt' es mir Not, ich weich' nicht zurück!« Der Stein spendet ihr Sonne, und dieses Licht bringt Glück, zieht sie aus dem dunklen Keller des alltäglichen Missbrauchs. Ekhart schenkt ihr den Stein, und es ist Ekhart, der Verena zum Schlossgarten, dem Ort der Katharsis, geleitet und sie dort verlässt. Er lässt sie alleine und in Gefahr: »Wie kam ich nur her? Wo ließ ich ihn steh'n, Ekhart, den treuen?«, fragt die geopferte Verena. Hier im Garten begegnen sich zwei Seelenverwandte, die arme Verena und der reiche Graf. Auch er hat eine Leiche im Keller, und auch er wurde von Ekhart heimgesucht: »Tag erstehend, Nacht vergehend, trüb' gemischt Trug-Traumgebilde schafft. Vom Ekhart hört' als Kind ich sagen, wie er als Mahner Kindern naht: Gute schützend auf ihrem Pfad, Schlimmen dräuend mit leid´gem Klagen! Was will der von mir? Was wollte sein Mahnen?«

 

 
Bewusstseinsbefreiung

Noch als Erwachsener versteht der Graf nicht, was Ekhart ihm angetan hat. Thomas Moore erklärt: »So widerlich wie de Sades Humor dem Missbrauch von Kindern gegenüber ist, so schlägt er doch eine Befreiung ins Bewusstsein solch fürchterlicher Liebespraktiken und solch schrecklicher Attraktionen vor: die ursprüngliche, unleugbare Sehnsucht des Menschen, Kinder zu beherrschen und ein erotisches Verlangen mit ihnen zu vollziehen. Hier stoßen wir auf eine außerordentlich dunkle Wahrheit, eine zentrale Wirklichkeit in der Welt, die wir lieber nicht sehen wollen. Es ist eine tiefe Kränkung der starken Zuneigung des Kindes. Aber, wie de Sade sagen würde, diese schlechten Dinge passieren nun einmal in der Welt, und deshalb sind sie in gewisser Weise Teil einer schockierenden, dunklen Realität.« (Moore, S. 96)

Diese dunkle Realität durchdringt Siegfried Wagners Musik. Verena fleht den Grafen hysterisch an: »Nur meine Reinheit, raub' sie mir nicht! Grausamer! Ehrst du keine Keuschheit, dann ehr' deinen Namen! Willst Du mit Schand' beflecken den Stand, der die Ehre sein eigenstes Gut heißt! Bist du ein Edler, ehre was edel!« Aber Verenas Reinheit kann nicht geraubt werden, da sie nicht existiert. In der Musik dieser Passage hört man, wie unrein die beiden sind, melodisch, harmonisch und rhythmisch. Die perfide Geilheit des Grafen und die Furcht Verenas sind fast zu riechen, wenn die drohenden Rhythmen und die Chromatik unter die Haut kriechen. Ich denke bei dieser Szene an Don Giovanni und Zerlina. Wenn man hinter die Kulissen sieht, ist keiner edel, niemand ist »schuldlos schuldig«. Heutzutage werden solche Kindermythen entlarvt. Der Graf hasst sich selbst: »O Ekel! Ekel über sie« (die Stolzen und Edlen) »und über mich! Über mich? Trag' ich denn Schuld, oder ist's Schuld, dass ich lebe?«

 

 
Perversion als alchemistische Reinigung der Seele

Als der Graf Verena keine Gnade schenkt, als sie gezwungen wird, dem Grafen zu geben, was »sein Recht ist«, greift sie zum Dolch. Thomas Moore erklärt den Gebrauch von Perversion als einen Teil der psychischen Entwicklung: »Perversion kann eine alchemistische Reinigung der Seele sein. Der Prozess der Perversion, de Sades ständige Verteidigung des Bösen, unterstützt die Polyzentrizität der Seele, indem sie ihre rigiden, einseitigen Begründungen und Werte aufweicht. Pervertierte Bilder weichen die Schale moralischer Verteidigung in den fauligen Gewässern einer unterirdischen Taufe auf. An den Wendepunkten ins Bewusstsein führen Träume die Träumenden oft an faule, feuchte Stellen, wo die Seele in verrottendem Dünger reifen kann. Ein pervertiertes Bild kann als eines der 'Symbole der Transformation / Veränderung' angesehen werden.« (Moore, S.108) 

 

 
Verenas Geburtstag ist ein Tag des Reifens. Die alten Träume, die Illusionen und Lügen des Kellers und der Gesellschaft werden transformiert, wenn sie sich als Stammes letztes Glied aufopfert. Die Abenteuer, die sie heute durchlebt, werden ihre Seele befreien und ihre Umwelt endgültig verändern. Nichtsdestotrotz, so glaube ich, wird es weiterhin Geister geben, »die poltern und kichern, jammern und weinen«.


Rebecca Broberg


Quelle: Programmheft zur Aufführung der kobold am Stadttheater Fürth 2005 (mit freundlicher Genehmigung der Autorin)
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